: Das New York des Balkans
METROPOLE Der Berliner Fotograf Boris Kralj hat neun Jahre lang Serbiens Hauptstadt Belgrad porträtiert. In der sonntaz erzählt er die Geschichten hinter den Bildern
„Dieser Block steht in einer sozialistischen Hochhäuserschlucht in Neu-Belgrad. Dieses Viertel ist, anders als man vielleicht auf den ersten Blick vermuten würde, eine bessere Wohngegend. Das Hochhaus heißt: 75/B-2. In dieser Gegend gibt es kaum Straßennamen – es wundert mich immer wieder, wie die Taxifahrer diese Gebäude finden. Mich fasziniert diese Verbindung von Brutalität und Eleganz: grauer, abweisender Beton, aber eben auch eine verspielte Wendeltreppe, goldene Fensterrahmen und elegante Maisonettewohnungen.“
Zwanzig Jahre nach Ausbruch der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien vermitteln uns die Fotografien von Boris Kralj ungewöhnliche Einblicke in die Millionenstadt Belgrad. „Schon als Kind,“ sagt Kralj, „waren die Hochhäuserschluchten des Stadtviertels Neu-Belgrad für mich das New York des Balkans – abschreckend, verführerisch, voller urbaner Versprechen und apokalyptischer Visionen.“
Boris Kralj wurde 1976 in Göppingen als Sohn jugoslawischer Gastarbeiter geboren. Einmal in der Woche ging er in die jugoslawische Schule. Als jugendlicher Pionier schwor er mit rotem Halstuch und blauer Kappe dem realsozialistischem Staatsführer Josip Broz Tito die Treue – mitten in Schwaben. Die Sommerferien verbrachte er in Jugoslawien. Später studierte er am Lette-Verein in Berlin Fotografie und arbeitete als Modefotograf unter anderem für Vanity Fair.
Das ehemalige Jugoslawien war für ihn geprägt durch Herzlichkeit, Wärme und eine multiethnische Vielfalt. Doch der Krieg hat dies alles zerstört. Verwandte haben sich zerstritten, Bekannte entfremdet. Und im Wohnzimmer seiner Eltern wanderte die Tito-Büste vom zentralen Platz auf dem Fernseher in die hinterste Ecke.
„Auf dem Bild sieht man das 1999 durch die Nato zerstörte serbische Verteidigungsministerium. Ich habe dieses Foto kurz nach der Bombardierung aufgenommen. Auf dem McDonald’s-Werbeplakat steht: ‚Danas ne kuvam. Mama – Heute koche ich nicht. Mama.‘ Als ich diese Szenerie sah, dachte ich: Die Küche ist kaputt, der Ofen ist aus, wir essen im Westen. Das Verteidigungsministerium ist heute immer noch zerstört – es fehlt ganz einfach das Geld für den Wiederaufbau – und steht wie ein Mahnmal an einer stark frequentierten Kreuzung in Belgrad.“
In den vergangenen neun Jahren ist Boris Kralj immer wieder nach Belgrad gereist, um dort, in der Hauptstadt Serbiens, den alten brüderlichen Geist Jugoslawiens zu suchen. Die scheinbare Nostalgie dieses Projekts ist alles andere als reaktionär. Sie ist vielmehr eine Suche nach Identität und Neubeginn. Er sagt: „Für die meisten Leute im Westen ist Belgrad ein Synonym für Gewalt, Krieg und das Böse. Meine Fotografien sollen diese Vorurteile überwinden, Nähe erzeugen, ein anderes, ein modernes Belgrad zeigen.“ ALEM GRABOVAC
■ Boris Kralj: „My Belgrade“. Die neue Sachlichkeit, Lindlar 2011, 172 Seiten, 32 Euro; Ausstellung: 8. 12. bis 16. 2., Galerie Kollaborativ, Saarbrücker Straße 25, Berlin