: Incredible India
Reportagen Pankaj Mishra beschreibt die Verhältnisse im heutigen Indien
Indien ist in. Indien präsentiert sich im Westen – als exotisches Reiseland, als aufsteigende Wirtschaftsmacht, als hoch- und popkulturelles Zentrum gleichermaßen und als spirituelle Weltmacht. Indien leuchtet, aber es ist nicht das Licht der Aufklärung, sondern das grelle Scheinwerferlicht von massenmedialer Reklame und politischer Propaganda.
„India shining“ hieß 2003 eine 20 Millionen US-Dollar teure Imagekampagne der damaligen rechtskonservativen BJP-Regierung Indiens (Bharatiya Janata Party). Sie lief in London, Frankfurt, aber auch in Mumbai und Neu-Delhi. Im Westen kam die Schaumschlägerei gut an, in Indien machte die BJP sie zur Wahlkampfparole 2004 … und „incredible India“ verlor.
Indiens internationales Image ist im neuen Jahrtausend aufpoliert; aber im Innern zeigen sich hässliche Seiten. Die kapitalistische Moderne zeigt ihre blitzblanken Zähne, aber vieles, was im Dunkeln liegt, sieht man nicht. Nicht nur im Westen, sondern auch in Indien nicht. Aber das sind die Orte, die der 1969 in Nordindien geborene, heute zwischen London und dem Fuß des Himalajas hin- und herpendelnde Pankaj Mishra aufsucht, um ungewohnte Perspektiven für westliche Leser, aber auch metropolitane Inder zu eröffnen.
Das leuchtende Indien ist ohne den Zerfall der bipolaren Weltordnung 1989 nicht zu verstehen, der dem postkolonialen Säkularismus der Nehrus und Gandhis ein Ende setzte, wie Mishra überzeugend zeigt. Die Schranken eines stagnierenden, bürokratischen Entwicklungskapitalismus, der das Elend auf dem Lande reproduzierte, wurden eingerissen. Die in den städtischen Zentren entstandenen neuen Mittelschichten sehen in der erfolgreichen indischen Diaspora vor allem in den USA ihr leuchtendes Vorbild. Umgekehrt möchte diese migrantische Erfolgsgruppe nicht mit einem Bild vom rückständigen Indien mit Witwenverbrennungen und Massenelend konfrontiert werden. Der von der BJP praktizierte Hindufundamentalismus führt nach außen ein in der Tradition verwurzeltes, nach brahmanischem Ethos gelenktes Indien vor, das mithilfe von Glauben und Wissenschaft zur Weltmacht werden kann.
Die aggressive Energie schöpft der Hindunationalismus aus dem Feindbild Muslime. Pakistan ist der Feind nach außen; aber Indien ist auch das Land mit den meisten Muslimen nach Indonesien und Pakistan: 135,5 Millionen. Hass, Provokation und Pogrome gegen sie begleiteten die Shining-India-Kampagne.
Mishras essayistische Reportagen zeigen auf eindringliche Weise den Hindufundamentalismus als eine gelebte moderne Mittelschichtsfantasie, die aber an der Mehrheit der 800 Millionen Inder, die sich durch diese Politik gedemütigt fühlen, ihre Grenze hat. „How to be Modern in India, Pakistan and Beyond“ hieß der Originaltitel. Hinter den Kulissen Bollywoods ist es nicht nur schön, wie Mishra zeigt. Indien ist unglaublich, aber anders, als man denkt.
DETLEV CLAUSSEN
■ Pankaj Mishra: „Lockruf des Westens. Modernes Indien“. Aus dem Engl. v. Matthias Wolf. Berenberg Verlag, Berlin 2011, 208 S., 24 Euro