Wie ein völlig verrückter Traum

CHAMPIONS LEAGUE Beim atemberaubenden 4:3-Auswärtserfolg gegen Titelverteidiger Real Madrid fehlt Schalke 04 lediglich ein einziges Tor, um ins Viertelfinale einzuziehen

„Da waren schon große Spieler dabei, an denen ich so nah vorbeigelaufen bin. Das habe ich schon sehr genossen“

LEROY SANÉ, STÜRMER VON SCHALKE 04

AUS MADRID DANIEL THEWELEIT

Imposante Kräfte können freigesetzt werden, wenn ein Gigant wankt, wenn sich eine Katastrophe von unabsehbaren Folgen andeutet und ein paar fröhliche Underdogs Gefallen an dieser Dynamik finden. In der Schlussphase des atemberaubenden 4:3-Sieges von Schalke 04 bei Real Madrid verschmolz eine große Angst des Publikums vor dem Unvorstellbaren mit den süßen Außenseiterhoffnungen auf ein Wunder und einer Portion Sensationslust zu einer aufregenden Mixtur unterschiedlichster Emotionen. „Ich glaube, am Ende ging denen ganz schön der Stift, noch drei, vier Minuten länger und ich weiß nicht, was hier los gewesen wäre“, sagte Schalkes junger Mittelfeldspieler Max Meyer, der viel Freude an diesen intensiven Momenten hatte.

Denn Real Madrid, der größte Klub der Welt, der gegenwärtige Inhaber des Champions-League-Titels, balancierte am Rande des Abgrunds. Ein Ausscheiden hätte das superteure Fußballprojekt aus Spaniens Hauptstadt tief erschüttert. Trainerentlassung, Umstrukturierung des Kaders, grundlegende Sinnkrise, alles wäre möglich gewesen. Und die Schalker schnupperten tatsächlich an einer der größten Fußballüberraschungen der jüngeren Vergangenheit. Im Bernabéu eine 0:2-Heimniederlage noch zu drehen, galt bis Dienstag als ungefähr so unmöglich wie eine Atlantiküberquerung zu Fuß.

Als Benedikt Höwedes in der 90. Minute ein Ball im Strafraum vor die Füße flog, fehlten lediglich eine letzte Portion Kraft oder ein wenig Glück. „Benedikt in der Nachspielzeit, das hätte ich gerne erleben wollen“, sagte Schalkes Manager Horst Heldt. Die Sensation blieb unvollendet, und dennoch applaudierten am Ende 8.000 Schalker Fans gemeinsam mit 62.000 Real-Freunden für eine Mannschaft, die „eine Leistung der Superlative gezeigt“ hatte, wie Trainer Roberto Di Matteo das Werk seines Teams nannte. Ein Werk, das natürlich auch seine Schöpfung war. Der als ultrapragmatischer Defensivfetischist geltende Trainer hatte perfekt erkannt, dass dieses seit Wochen kriselnde Real-Konstrukt verwundbar ist. Und zwar durch Mut und Angriffslust.

Di Matteo habe „die Mannschaft grandios eingestellt“, lobte Heldt den Trainer, und der Spielverlauf passte perfekt. Schon nach 20 Minuten schoss Christian Fuchs das erhoffte Führungstor, danach balancierte Real permanent am Abgrund. Als Retter musste mal wieder Cristiano Ronaldo einspringen, dessen Wert nicht nur darin besteht, dass er fast immer trifft – an diesem Abend sogar zweimal. Er trägt auch eine Willenskraft in sich, mit der er wankende Mitspieler aufrütteln kann. „Cristiano Ronaldo hat wie im Hinspiel auch heute wieder den Unterschied ausgemacht“, sagte Di Matteo.

Wobei der Portugiese ganz am Ende, als Schalke nach zwei Toren von Klaas-Jan Huntelaar und einem schönen Treffer des jungen Leroy Sané mit 4:3 führte, auch machtlos war gegen die Wucht des Augenblickes. Ein Tor fehlte Schalke, und die Spanier hatten jegliche Ordnung verloren. „Ich gebe zu, ich war sehr froh, als das Spiel abgepfiffen wurde“, sagte Toni Kroos, der Stratege aus dem Real-Mittelfeld. Das lichterloh brennende Krisenfeuer in Madrid erhielt an diesem Abend aber trotz abgewendeter Katastrophe neuen Zündstoff. „Es wird jetzt schon unruhig hier, das ist eben so bei diesem Verein“, prognostizierte Kroos.

Allerdings ist die Hysterie der spanischen Zeitungen keineswegs aus der Luft gegriffen. Der Sturm mit Gareth Bale, Ronaldo und Karim Benzema, dem Schützen des zwischenzeitlichen 3:2, trifft erheblich seltener als in der Vorsaison. Vor allem aber mangelt es dem Team von Carlo Ancelotti an defensiver Stabilität. „Wir haben das Vertrauen in unserem Spiel verloren“, sagte der italienische Trainer.

Den Schalkern war das durchaus bewusst, „in Berlin am Samstag werden wir nicht so viel Raum im Mittelfeld bekommen“, mahnte Meyer zur Besonnenheit, und am Ende sind sie ja trotz ihrer großen Leistung gescheitert. Aber der wunderbaren Spieler, die Schalkes Ausbildungsabteilung mit dem Namen Knappenschmiede hervorbringt, durften sie sich guten Gewissens rühmen. Mit Meyer, Timon Wellenreuther und Sané standen drei 19-jährige Eigengewächse auf dem Rasen, Joel Matip und Benedikt Höwedes wurden auch auf Schalke ausgebildet, und besonders für Sané war dieser Abend wie ein völlig verrückter Traum. „Hinterher saß ich in der Kabine und habe gedacht: Da waren schon große Spieler dabei, an denen ich so nah vorbeigelaufen bin. Das habe ich schon sehr genossen.“