: Freie Fahrt für Fremdenangst
In Brandenburg demonstrieren Polizeigewerkschafter gegen den Wegfall der Grenzkontrollen. Sie drohen mit „Terroristen“ aus Osteuropa
Wegfall der Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union, dafür genaue Kontrolle an ihren Außengrenzen: Das ist der Grundgedanke des Schengener Abkommens – benannt nach der Luxemburger Stadt, in der es 1985 unterzeichnet wurde. England und Irland sind dem Abkommen nicht beigetreten, sonst aber inzwischen alle Staaten, die bereits vor 2004 Mitglied der EU waren. Ab dem 21. Dezember dieses Jahres wird Schengen auch für die neuen EU-Staaten nach der Osterweiterung gelten; Ausnahmen: Zypern, Bulgarien, Rumänien.
AUS FRANKFURT (ODER) UND ZINNWALD ASTRID GEISLER UND MICHAEL BARTSCH
Es ist ein ungewöhnlicher Einsatz, zu dem die Polizisten am Mittwoch in der Grenzstadt an der Oder angetreten sind. Statt mit Pistolen und Knüppeln haben sie sich mit Trillerpfeifen und Transparenten bewaffnet. „Wir demonstrieren heute gegen den Bundesinnenminister Schäuble und seine völlig unschlüssige Sicherheitspolitik“, ruft ein Polizeigewerkschafter ins Megafon. „Uns ist es wirklich ernst!“ Die Menge pfeift und johlt. „Die Situation hier wird nach dem 21. Dezember nicht sicher sein!“ Beamte halten ein Transparent in die Luft: „Offene Grenzen ja – keine Freifahrt für Terrorismus und Kriminalität“ steht darauf.
In einem Monat soll hier an der deutsch-polnischen Grenze ein weiterer Schritt auf dem Weg zur europäischen Einigung vollzogen werden: Passkontrollen werden abgeschafft, die Reise nach Polen soll so unkompliziert sein wie nach Frankreich oder Österreich. Ein „Glück für Deutschland“ sei das und ein Grund zum Feiern, verkündet Bundesinnenminister Schäuble seit Wochen. Doch just seine Untergebenen wollen nicht mitjubeln. Es sei fahrlässig, hunderte Beamte von der Grenze abzuziehen, warnen sie.
Es ist verkehrte Welt. Denn dass Schäuble die Terrorgefahr kleinredet und die Sicherheit der Bürger aufs Spiel setzt, muss sich der CDU-Mann selten vorhalten lassen. Zumal er in guter Gesellschaft ist. Auch sein Brandenburger Amtskollege Jörg Schönbohm heißt das Ende der Grenzkontrollen gut. Seit Wochen versichern die Minister, die Lage bleibe auch nach dem 21. Dezember sicher. Die Kampagne der Polizeigewerkschaften sei „rückwärtsgewandt“ und „europafeindlich“, ätzte Schönbohm. Einigen Beamten gehe es wohl eher darum, die geplante Reform der Bundespolizei zu torpedieren.
Ein Spiel mit der Angst im privaten Interesse also? Das weisen die Organisatoren der Demonstration von sich. Allerdings macht Lars Wendland von der Gewerkschaft der Bundespolizei in Frankfurt kein Hehl daraus, dass auch persönliche Sorgen die Beamten auf die Straße treiben. Denn Schäuble plant, im Zuge der Polizeireform und der Schengen-Erweiterung zahlreiche Beamte von der Ostgrenze abzuziehen. An der brandenburgisch-polnischen Grenze drohe bis zu 900 der 2.100 Sicherheitskräfte die Versetzung, unkt Gewerkschafter Wendland. „Es wird Kollegen treffen, die hier seit langem sesshaft sind.“
Schäubles Ministerium nennt die Zahlen der Gewerkschafter „nicht seriös“. Die Demonstration richte sich gegen eine „gefühlte drohende Veränderung“, schließlich sei die Polizeireform nicht spruchreif. Im Übrigen sollten die Grenzposten nicht einfach geschlossen, sondern durch mobile Polizeieinheiten ersetzt werden. Die Kriminalität, prophezeit das Bundesinnenministerium, werde so sogar sinken.
Ähnlich argumentiert Sachsens Innenminister Albrecht Buttolo (CDU) – zumindest seit kurzem. Denn ursprünglich hatte auch die Union in Sachsen die Beibehaltung der Grenzkontrollen gefordert. Doch davon ist Buttolo abgerückt. So versicherte er Kommunalpolitikern bei einem Ortstermin am Grenzübergang Zinnwald, nach dem 21. Dezember werde sich nicht viel ändern, von einem „Zugewinn an Freiheit“ abgesehen. Die Grenzlinie werde durch einen Grenzraum ersetzt, statt stationärer werde es dreimal so viele mobile Kontrollen geben. „Und wer bislang eine Straftat begehen wollte“, witzelte Buttolo, „hat vorher ja auch nicht seinen Ausweis gezeigt.“
Selbst anwesende Polizeifunktionäre äußerten sich kritisch über die Kampagne ihrer Kollegen: „Da werden Süppchen gekocht, die mit Schengen gar nichts zu tun haben“, sagt ein hoher Beamter der Bundespolizei, das sei „Panikmache“. Und Landespolizeipräsident Bernd Merbitz bekräftigt, kein einziger sächsischer Polizist werde seine Stelle im Grenzgebiet verlieren. Er könne die Klagen der Kollegen inzwischen kaum noch hören.
Welche Terroristen nach dem 21. Dezember ungebremst nach Westen düsen könnten, darauf weiß auch der Organisator der Frankfurter Demo, Lars Wendland, keine Antwort. „Uns geht es nicht konkret um die Terrorzelle A oder B“, sagt er, „uns geht es darum klarzustellen: Die Grenze wird zu früh aufgemacht.“ Im Übrigen stoße die Gewerkschaft bei ihrem Protest auf Verständnis in der Bevölkerung, viele hier fürchteten sich vor den offenen Grenzen.
Bei den Kundochs weckt der Protestzug der Beamten durch Frankfurts Innenstadt in der Tat keine Vorfreude. Hand in Hand steht das ältere Ehepaar am Straßenrand und schaut zu. Viermal schon sei in ihren Bungalow eingebrochen worden, sagt Erika Kundoch. „Demnächst sind die Gauner dann noch schneller weg. Dann wird das noch schlimmer mit der Kriminalität!“ Ginge es nach ihr, würde die Schengen-Erweiterung abgeblasen: „Wir haben kein Problem damit, unsere Ausweise vorzuzeigen.“
Der Frankfurter Oberbürgermeister Martin Patzelt hält solche Ängste für übertrieben. Natürlich horchten die Menschen auf, wenn just die Polizei solche Warnungen verbreite, sagt der CDU-Politiker. Aber von großer Besorgnis in der Stadt könne keine Rede sein. „Ich glaube, dass es wirklich Zeit ist für die Schengen-Erweiterung“, sagt er. „Wir haben keinen Grund, Polen weiter zu diskriminieren.“
Auch die polnischen Grenzbeamten sehen keinen Grund zur Panik. „Ich freue mich auf den 21. Dezember“, sagt ein Sprecher des polnischen Grenzschutzes, der am Kontrollposten Frankfurter Stadtbrücke Dienst tut. Er strahlt. „Ich sage das nicht nur als Beamter, sondern auch als Bürger – ich reise einfach gerne.“ Elf Länder Europas kenne er bisher, „es sind also noch viele übrig“.