: Kollateralschaden
Nichts konnte dem stalinschen Konstrukt einer antisowjetischen Verschwörung von Trotzkisten und Faschisten nützlicher sein als ein Prozess jenseits der Sowjetunion, in dem von einem bürgerlichen Gericht ebendiese Verbindung nachgewiesen würde.
Der sowjetische Geheimdienst suchte für dieses Unternehmen Barcelona aus und als Angriffsziel die stalinkritische Arbeiterpartei der marxistischen Einheit (POUM). Die POUM sollte mit einem vom sowjetischen Geheimdienst gefälschten und einer infiltrierten faschistischen Gruppe untergeschobenen Dokument „entlarvt“ werden. Andres Nin, Führer der POUM, wurde aus Barcelona nach Madrid entführt und von „Spezialisten“ verhört. Er weigerte sich, zu gestehen, woraufhin er spurlos verschwand.
Der Prozess fand schließlich im Oktober 1938 statt. Die von der spanischen KP instruierte Anklage konnte nichts vorweisen, was eine Verbindung zwischen den Faschisten und der POUM bewiesen hätte. Im Gegenteil widerriefen die Belastungszeugen, die Partei wurde vom Verdacht der Kollaboration gereinigt. Verurteilt wurden ihre Vertreter aber wegen der Teilnahme an den Auseinandersetzungen im Mai 1937, als sie mit Anarchisten gegen die KP und die Sozialdemokraten gekämpft hatten.
Als sich die sowjetischen Geheimen und ihre spanischen Helfer nach der Niederlage der Republik 1939 über die Grenze absetzten, ließen sie die POUM-Leute im Gefängnis zurück, um sie der Rache der Francofaschisten auszuliefern. Auch dieser Plan misslang. Den POUM-Kämpfern gelang die Flucht. Propagandistisch endete der POUM-Prozess mit einer Niederlage der Stalin’schen Schergen. CS
18 Millionen Russen wurden unter Stalin in Lager verschleppt. Doch im heutigen Russland ist das Erinnern an die Opfer unerwünscht. Geschichte soll Erfolgsgeschichte sein
VON KLAUS-HELGE DONATH
„Wie lange wollen Sie noch an den Gulag erinnern und die Menschen aufwühlen? Es ist Zeit, zu verzeihen und zu vergessen.“ Unzählige Briefe empörter Bürger mit dem immer selben Tenor gingen Jahr für Jahr bei Alexander Jakowlew ein. Bis zu seinem Tod 2005 leitete der Architekt der Gorbatschow’schen Perestroika die Kommission zur Rehabilitierung stalinistischer Opfer in Russland, die im Kreml beim Präsidenten angesiedelt ist. Die Politik mischte sich in seine Arbeit nicht ein. Gleichwohl klagte Jakowlew damals schon über die Gleichgültigkeit, mit dem der Staat den Millionen Opfern begegnete. Als er starb, hinterließ er 400.000 unerledigte Fälle. Um die Kommission ist es seither noch ruhiger geworden. Auch der siebzigste Jahrestag des Großen Terrors hat daran nichts geändert.
Im Juli 1937 hatte der Volkskommissar, Nikolai Jeschow, den Erlass mit der Nummer „00447“ unterzeichnet. Hinter der unscheinbaren Zahl verbarg sich der Befehl, mit dem der KPdSU-Generalsekretär Josef Stalin die Zeit des Großen Terrors einleitete. Noch im selben Jahr vollstreckten Stalins Schergen 353.074 Todesurteile, 328.000 Menschen wurden 1938 liquidiert. „Volksfeinde“ und „Schädlinge“ verschwanden zu Hunderttausenden in den 30.000 Lagern des staatlichen Gulag-Systems. Zwischen 1928, der „Zweiten Revolution“, und dem Todesjahr des Diktators 1953 waren 18 Millionen Menschen durch die Lager gegangen und sechs Millionen als „Sondersiedler“ in unwirtliches Exil geschickt worden.
Der Kreml überging den Jahrestag zunächst. Erst Ende Oktober, am Tag der Opfer des Stalinregimes, erschien Präsident Wladimir Putin überraschend auf einer Gedenkfeier in einem Waldstück am Rande Moskaus, wo 20.000 Opfer der ersten Hinrichtungswelle verscharrt wurden. Der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin soll es dem Kremlchef dringend nahegelegt haben. Ein schwerer Gang muss dies für den Präsidenten gewesen sein, unter dessen Ägide die sowjetische Vergangenheit, eine Geschichte der Gewalt, wieder als ein gelungenes Projekt mit unvermeidlichen Kollateralschäden ausgelegt wird.
Russland wehrt sich gegen eine Aufarbeitung der Geschichte. Wer Fragen stellt, forscht und gar von außen kommt, kein Russe ist, maßt sich etwas an, was ihm eigentlich nicht zustehe. Das Verschweigen hat fast alle Gesellschaftsschichten erreicht. Ein euphorischer, manchmal paranoid anmutender Jubel erweckt den Eindruck, als solle mit aller Kraft die Tragik übertönt werden. Dabei wird nicht die menschenverachtende Politik der Sowjetunion als Katastrophe empfunden, sondern der Zusammenbruch des Sowjetsystems.
Ein befremdliches Pathos durchzieht auch ein aktuelles Lehrerhandbuch zur Geschichte, das der Kreml in Auftrag gab. Das Autorenkollektiv um den Historiker Alexander Filippow stellt die Entwicklung der UdSSR seit dem Zweiten Weltkrieg als eine unbefleckte Erfolgsgeschichte dar, die 1991 durch unglückliche Umstände ein unverdientes Ende fand. In dieser Nachkriegshistorie kehrt Diktator Stalin als herausragender Staatsmann zurück. „Einerseits sieht man in Stalin den erfolgreichsten Staatsführer der Sowjetunion … Im größten aller Kriege wurde ein Sieg errungen und es fand eine industrielle, wirtschaftliche und kulturelle Revolution statt.“
Terror und Millionen Tote werden nicht ganz verschwiegen, aber an den Rand verbannt. Sie erscheinen als Materialeinheiten, die der Staatsräson auf dem Altar der Modernisierung dargebracht werden mussten. „Unter Stalins Herrschaft erlebte das Land einige Wellen großer Repressionen. Initiator und Theoretiker der ‚Verschärfung des Klassenkampfes‘ war Stalin selbst. Ganze Gesellschaftsschichten wurden vernichtet.“ Von einem Leben ohne Gefahr könne keine Rede gewesen sein, räumen die Autoren ein. Dennoch: „Die Sowjetunion hatte das beste Bildungssystem der Welt, gehörte zu den führenden Ländern in der Wissenschaft und hatte die Arbeitslosigkeit fast besiegt.“ Der Mensch kommt in dieser Konstruktion weder als Individuum noch als handelndes Subjekt vor, sodass die Opfer in einem Morast historischer Tragik entsorgt werden.
Das war mal anders. In der Umbruchzeit der Perestroika rissen sich Medien um Erinnerungen von ehemaligen Gulag-Häftlingen, kaum ein Tag verging, an dem nicht neue Gräueltaten der Todesschwadronen des Geheimdienstes NKWD angeprangert wurden. Kristallisationspunkt der Aufarbeitung des Terrors war ab 1988 die Bürgerrechtsorganisation „Memorial“, die sich zu einer politischen Bewegung mauserte. Heute ist sie nur noch ein Schatten ihrer selbst, ihre Arbeit findet wenig Resonanz und sie überlebt nur dank westlicher Finanzhilfe.
Oleg Chlewnjuk, der Historiker und Autor der umfassendsten russischen Gulag-Geschichte, ist bis heute auf westliche Stipendien angewiesen. Wer sich der sowjetischen Vergangenheit kritisch nähert, bleibt im akademischen Betrieb chancenlos. Ähnliche Erfahrungen machte auch der frühere Dissident und Memorial-Mitbegründer Nikita Petrow. Jahrelang hat er einen russischen Verlag für seine Biografie des Volkskommissars Jeschew gesucht, die im Westen längst verlegt worden war. Selbst der Zugang zu sensiblen Archiven wird nach und nach erschwert. Eine unkritische Sehnsucht nach der Stalinzeit hat die Gesellschaft erfasst, glaubt Petrow. Das sei vor fünfzehn Jahren schlicht undenkbar gewesen.
Die Aufarbeitung der Geschichte wird auch durch die beispiellose Willkür des Sowjetterrors erschwert. Auf dem Höhepunkt der Repressionswelle gab es keine Kriterien mehr, die jemanden als Opfer prädestinierten. Dem wahllosen Terror trug Memorial in den 80ern auf besondere Weise Rechnung: es machte keinen Unterschied zwischen Tätern und Opfern und bezog beide in die Erinnerung mit ein. Oft hatten Täter keine andere Wahl und wurden über Nacht selbst zu Opfern. Alle fünf Hauptleiter des Gulag-Systems wurden in den Dreißigerjahren nacheinander erschossen. Nicht selten lebten Überwacher und Bewachte nach der Lagerzeit in derselben Stadt als Gefangene desselben Systems, das ihnen eine freie Wahl des Wohnortes untersagte. Schweigen konnte auch Kompromiss und Versuch eines neuen Anfangs sein. Der Wunsch, Teil des Kollektivs zu sein, führte jedoch auch zu dem verbreiteten Phänomen, dass ehemalige Häftlinge die vorsichtige Haltung der Mehrheitsgesellschaft bis in Sprache und Ritual verinnerlichten. Als sei die eigene Erfahrung etwas Äußerliches.
Das allumfassende Leugnen der Vergangenheit deutet auf tiefere kollektive Ängste hin. Der Publizist Gerd Koenen hält in seiner „Utopie der Säuberung“ die intellektuell kaum zu bewältigende Vorstellung des selbst verschuldeten Verbrechens für ein entscheidendes Motiv der Verweigerung. Schon um sich selbst zu schützen, führt die Suche nach Schuldigen nach „draußen“ oder zu „inneren Feinden“, die sich wiederum auch nur als „Fremde“ entpuppen.
Vom Stigma des „inneren Feindes“ konnten sich die Lagerinsassen nie richtig befreien. Und wer sich einmal öffnete, lief Gefahr, eines Tages wieder marginalisiert zu werden. Denn das Pendel der Liberalisierung konnte auch wieder zurückschwingen. Sehr viele Häftlinge waren auch nicht bereit, den Staat als Rechtsnachfolger des Terrorsystems um Rehabilitierung zu bitten. Das kam einer erneuten Unterwerfung gleich. Sie schwiegen lieber.
Das Schicksal Antonina Golowinas steht für das von Millionen: Die Tochter eines in den 30er-Jahren zwangskollektivierten Kulaken fälschte Papiere, um sich von dem Fluch, Kind eines Volksverräters zu sein, zu befreien und einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Fast fünfzig Jahre behielt sie alles für sich. Erst als sich das politische Klima Ende der 80er-Jahre änderte, erfuhr sie nach mehr als zwanzig Jahren Ehe, dass auch ihr Mann seine Jugend in Lagern und Sondersiedlungen verbracht hatte.
Systematisch sind die psychischen Folgen von Verdrängung und Haft nie untersucht worden. Posttraumatische Behandlungen, wie sie für Überlebende des Holocaust eine Selbstverständlichkeit darstellen, sind in Russland unbekannt. Das liegt auch daran, dass Traumata und psychische Krankheiten generell in der Gesellschaft tabuisiert werden. Der russischen Vorstellung ist ein individualistischer Zugang noch fremd. Ein Leben mit Geheimnissen entspricht daher im atomisierten Kollektiv der russischen Gesellschaft auch heute oft der Norm. Zudem erschienen angesichts der schwierigen materiellen Lebensbedingungen psychische Probleme schlicht wie überflüssiger Luxus. In der UdSSR praktizierten auch nur wenige Psychologen, die sich als Angestellte im Staatsdienst nicht unbedingt als Vertrauenspersonen empfahlen.
Von der eigenen Historie hat die Mehrheit der Bevölkerung nur verschwommene Kenntnisse, stellten Soziologen des Meinungsforschungsinstituts Lewada fest: Viele Bürger seien nach wie vor in mythologisierten Darstellungen der Sowjetzeit befangen, die auch die jüngere Generation unhinterfragt übernimmt. Bis heute gibt es kein zentrales staatliches Mahnmal für die Opfer und nicht eine Gedenktafel in Moskau. Verdrängung beschränkt sich jedoch nicht auf die Wahrnehmung der Geschichte, so die Soziologen. Eine „neurotische Kollektivpersönlichkeit“ habe sich herausgebildet, die für Egozentrismus, Xenophobie und Aggression nach innen wie außen sehr anfällig sei. Eine unreife, frustrierte und autoritäre Persönlichkeit, die das Angebot der politischen Führung, für Gegenwart wie Vergangenheit Verantwortung abzulehnen, bereitwillig aufgreife.
KLAUS-HELGE DONATH, Jahrgang 1956, ist seit 1990 Korrespondent der taz in Moskau