: Idyllische Sehnsuchtsträume
Schön gezeichnete Mythenwundertüten: Historische Stoffe wärmen jetzt auch die Herzen von Comicfans in unserer unbehausten Postmoderne
VON FRANK SCHÄFER
Momentan erscheinen einige aufwendige Graphic Novels mit historischen Sujets, die weniger auf Spannungswerte und eine abenteuerliche Handlung setzen als sich um plastische Charakterzeichnungen, realistische Interieurs, Atmosphäre und nicht zuletzt um sozialgeschichtliche Korrektheit bemühen. Ob man jetzt schon von einem neuen Trend auf dem Comicmarkt sprechen kann, lässt sich noch nicht sagen. Aber möglicherweise offenbart sich nun auch in der Kunstdisziplin der Bildgeschichte eine Tendenz zur Retrofizierung, wie sie sich vor längerer Zeit bereits in der Popmusik durchgesetzt hat.
In „Der Leuchtturm“ von Bruno Le Floc’h wird ein Pariser Ingenieur von der französischen Regierung kurz vor dem Ersten Weltkriegs an die raue bretonische Küste geschickt, um dort den Bau eines Leuchtturms in die Wege zu leiten. Der junge Mann hat Widerstände zu überwinden und muss sich gegen die desinteressierten Seeleute der kleinen Hafenstadt ebenso durchsetzen wie gegen die Ranküne des Ministeriums. Nach einigen Rückschlägen aber nimmt das Projekt Form an. Der Ingenieur verguckt sich schließlich in diese karge Gegend und ihre Leute, besonders in die Braut eines fast schon befreundeten Fischers. Er lernt, zu taktieren, krumme Geschäfte zu machen, sich diesem Soziotop anzupassen – und schließlich steht der Leuchtturm. Jedoch am Tag der Einweihung kommt die Nachricht von der allgemeinen Mobilmachung. Der Krieg beginnt.
Le Floc’h hat gut recherchiert. Die Gebäude, die Arbeitsgeräte, die folkloristischen Trachten, das wirkt alles ziemlich authentisch. Dennoch wird man nicht richtig heimisch in dieser alten Welt, was vor allem erzähltechnische Gründe hat; das Szenische gerät elliptisch und skizzenhaft. Mit einem langsameren Tempo, also mindestens einer Verdopplung des Umfangs bei gleicher Plotdichte, wäre ihm die Dokumentation einer historischen Alltagswelt überzeugender gelungen.
Régis Loisel und Jean-Louis Tripp haben ihren Comic „Das Nest“ gleich auf mehrere Bände angelegt. Das zahlt sich aus. Skrupulös, detailreich und mit feinem Gespür für Atmosphären – so viel lässt sich bereits nach den ersten beiden Bänden sagen – zeichnen sie das dörfliche Alltagsleben in der kanadischen Provinz Quebec in den Zwanzigerjahren nach. Die Menschen sind arm. Die Männer gehen für viele Monate weg aus dem Dorf und schlagen Holz in den Wäldern. Zu Hause bleiben nur die Schwachen, Frauen und Kinder. Ein Neuer kommt ins Dorf und wird skeptisch beäugt: Serge, Kriegsveteran und ehemaliger Tierarzt, hat lange Zeit in Paris verbracht, ist entsprechend weltläufig, und er kann besser kochen als die Frauen. Marie, die Krämerwitwe, die gerade ihren Mann unter die Erde gebracht hat, nimmt ihn auf. Serge bringt das starre Dorfgefüge durcheinander und geht der trauernden Marie zur Hand. Als er für den verletzten Metzger einspringt und ein Schwein schlachtet, gewinnt er den Respekt der Dorfbevölkerung – und natürlich irgendwann Marie.
Loisel/Tripp lassen sich Zeit beim Auspinseln des Dorfsoziotops. So gewinnen die Charaktere langsam Profil: der gutherzige Dorftrottel Gaetan, die Lehrerin Alice, die ihr Baby verliert, Noël, der atheistische Zimmermann, der ein Boot bauen will und unerwartet Hilfe vom pragmatisch-hemdsärmligen neuen Pfarrer bekommt, und die sich sacht aufeinander zubewegenden beiden, Serge und Marie. Auch wenn die Sentimentalität der Autoren diese verlorene Welt verklärt, auch wenn der opulente Stil ein wenig betulich wirkt – man ist dennoch hingerissen von der Wärme dieser kunstvoll verflochtenen Geschichten.
Das lässt sich von den „Vertrauten Fremden“ ebenfalls sagen. Dieser sorgfältig komponierte Bildroman hat dem japanischen Comic-Künstler Jiro Taniguchi auch in Europa zum Durchbruch verholfen und demonstriert sein enormes Talent für Set und Szenario. Der verkaterte Architekt Niroshi Nakahara steigt in den falschen Zug und landet durch Zufall in seiner Geburtsstadt. Er besucht das Grab seiner Mutter, fällt in Ohnmacht und ist auf einmal wieder ein 14-jähriger Pennäler. Sehr bald genießt er die Regression, erinnert sich dann aber daran, dass just in dieser Zeit sein Vater spurlos verschwand. Also nutzt Hiroshi sein zweites Leben nicht nur dazu, das Mädchen Tomoko, den damals unerreichbaren Schwarm, für sich zu gewinnen. Er will zudem herausfinden, was seinen Vater bewogen hat, die Familie sitzen zu lassen, um es diesmal zu verhindern. In Rückblenden, in Gesprächen mit der Großmutter und dem Vater selbst, den Hiroshi schließlich zur Rede stellt, entsteht so nicht nur das Porträt eines am Gängelband von Ehre, Tradition und Familie dahinlebenden Durchschnittsmanns im Japan der Nachkriegszeit, sondern zugleich ein plastisches Faksimile des japanischen Alltags der frühen Sechzigerjahre. Taniguchi feiert das Profane. Er skizziert typische Lokalitäten, das Jugendzimmer, den Kleinstadtpark, den Friedhof, ein Restaurant. Teilnahmsvoll beschreibt er die Verrichtungen des Alltags: die Einnahme der Mahlzeiten, eine Schulstunde, einen Spaziergang durch eine Geschäftsstraße. Diese ruhige Narrationsweise harmoniert mit seiner statischen Panelaufteilung.
„Vertraute Fremde“ entwickelt einen meditativen Sog. Allerdings stolpert man immer wieder über papierne Dialoge: Alle sprechen hier eine entindividualisierte, keksdröge Schriftsprache, die man wohl nicht nur der Übersetzung anlasten darf. Dass dieser Comic dennoch funktioniert, bestätigt umso mehr Taniguchis bildnerische Qualitäten.
Näher dran, zeitlich wie kulturell, ist Reinhard Kleist, der in den drei Comic-Short-Storys von „The Secrets of Coney Island“ den heruntergekommenen New Yorker Vergnügungspark illuminiert. Die Storys sind am amerikanischen Mystery-Thriller geschult und erinnern an die Freaks-Episode von „Akte X“. Eine eingeschworene Gemeinde mit paranormalen Fähigkeiten hält den Betrieb am Laufen für die paar Gäste, die sich noch hierher verirren. Der Laden ist ständig von Schließung bedroht, aber wenn es ernst wird, geht man auch schon mal über Leichen. Kleists eckiger Pinselstrich und seine aufwendige Schattierungsarbeit schaffen ein suggestives Setting, in dem sich die Bildwelten des amerikanischen Kinos widerspiegeln. Jede Szene, jedes Bild kommt einem bekannt vor. Das hat seine ästhetische Berechtigung: Kleist plündert den Fundus populärer Mythen, um damit seinen Mythos in Szene zu setzen. Man fühlt sich dabei so behaglich, als würde man einen alten Film noch einmal sehen.
Eine gewisse Gemütlichkeit ist allen vier Comics eigen. Es sind die ästhetischen Bedingungen der Idylle, denen die Autoren sich gewollt oder ungewollt unterwerfen. Sie evozieren noch einmal ein Goldenes Zeitalter, das schon lange perdu ist, genauer: Das es nie gab. Sie schaffen einen Sehnsuchtsraum, der sich durch all das auszeichnet, was die postmoderne Realität nicht mehr bieten kann: Ordnung, Übersichtlichkeit, Wahrheit, Authentizität. Kleist und Taniguchi entlarven dabei ihre Bildwelten selbst als Fluchtfantasien: Taniguchi, indem er sein Sixties-Japan als Traumrealität schafft, aus der sein Ich-Erzähler Hiroshi schließlich erwacht; noch intrikater Kleist, indem er sein Coney Island offensichtlich als Mythenwundertüte anlegt und die Insel damit kenntlich macht als bloße Phantasmagorie.
Bruno Le Floc’h: „Der Leuchtturm“. 96 Seiten, 16 €; Régis Loisel und Jean-Louis Tripp: „Das Nest“. Bisher 2 Bände, unpaginiert, je 18 €; Jiro Taniguchi: „Vertraute Fremde“. 410 Seiten, 19,90 €; alle Carlsen Comics, Hamburg 2007. Reinhard Kleist: „The Secrets of Coney Island“. Edition 52, Wuppertal 2007, 80 Seiten, 12 €