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Archiv-Artikel

Mit allen Sinnen

MEDIENALLTAG Mündigkeit durch gezielten Verzicht: Die Waldorf-pädagogik führt Schüler behutsam an PC und Co. heran

Provokation: Die Autoren der Broschüre plädieren für eine frühe Medienabstinenz

VON HEIDE REINHÄCKEL

„Die Waldorfschule ist keine Insel, die von den Auswirkungen der modernen Medien nicht betroffen ist. Auch hier gibt es Handys im Klassenzimmer oder Schüler werden in den sozialen Medien gemobbt“, berichtet Franz Glaw. Der Oberstufenlehrer für Deutsch und Mathematik an der Waldorfschule in Düsseldorf kennt Schule in Zeiten von Wikipedia, Google, Facebook und Twitter aus der täglichen Unterrichtspraxis. Und er kennt auch die Vorurteile und Klischees, mit denen die Schulform oft konfrontiert wird: „Viele glauben, Waldorfpädagogen sind grundsätzlich gegen moderne Medien, aber das ist ein Irrtum. Gewiss gibt es Kollegen, die sich dagegen verschließen, aber das ist eine aus der Zeit gefallene Richtung.“

Doch wie verhält sich die Waldorfpädagogik zum Thema elektronische Medien, wenn kein medienkritisches Parlando à la Neil Postmann vorherrscht? Der Bund der Freien Waldorfschulen hat als aktuelle Positionsbestimmung nun einen Reader mit dem Titel „Struwwelpeter 2.0 – Medienmündigkeit und Waldorfpädagogik“ veröffentlicht. Die von vier Autoren verfasste, rund 40 Seiten umfassende Broschüre ist eine Art Update der Waldorfpädagogik in Sachen neue Medien. Sie fragt, ab wann und wie der Einsatz von elektronischen Medien an der Waldorfschule sinnvoll ist und nicht ob überhaupt – wie Kritiker vielleicht vermuten könnten. Dabei liest sich der Reader wie eine Mischung aus einem Crashkurs Medienwissenschaft, waldorfpädagogischen Ansätzen und Ratgeberliteratur. Die Autoren, zu denen auch Glaw gehört, plädieren für eine frühe Medienabstinenz, um später Medienmündigkeit zu erlangen. Was auf den ersten Blick provokativ und altmodisch wirkt, Stichwort Medienabstinenz, heißt aber konkret: Erst ab dem 7. Schuljahr sollen der Computer und das digitale Lernen Einzug in die Waldorfschule halten.

Hinter diesem Argument stehen unter anderem entwicklungspsychologische Aspekte, die auch in der breiteren gesellschaftlichen Diskussion über das Phänomen digitale Kindheit diskutiert werden. So verweist die Literaturliste auch auf das Sachbuch „Digitale Demenz“ des Neurobiologen Manfred Spitzer. Medienreife, also der altersgerechte und reflektierte Einsatz von neuen Medien im Klassenzimmer, ist somit ein Hauptanliegen der Publikation. Die Beiträge umfassen auch praktische Themen wie Offline-Pausen für Erwachsene oder Datenschutz und Netiquete für Jugendliche. Glaw zeigt in seinem Beitrag Beispiele für Medienerziehung in der Oberstufe, die vor allem den Schülern Einblicke in die Produzentenseite des Mediensystems eröffnen sollen.

Denn um nicht in der Subkultur Waldorfschule steckenzubleiben, ist Glaw an der Düsseldorfer Schule sehr engagiert und sucht den Kontakt mit Medienpraktiker. So besuchte schon einmal ein Vertreter der Wikimedia-Foundation die Schule, um über die Entstehung von Wikipedia-Artikeln zu berichten, oder die Schüler erfuhren, wie beim WDR-Radio eine Sendung für die „ZeitZeichen“ produziert wird. Den Schülern solche Einblicke in die Medienproduktion zu ermöglichen und sie auch selbst im möglichen Rahmen zu Medienakteuren zu machen, ist Glaw ein Anliegen: „Ich würde niemals sagen, lasst die Kinder bis ans Ende der Schulzeit ohne Computer. Aber es geht um eine mündige Anwendung.“

Dass der Reader den Zeitgeist und die Fragen in der Waldorfschulszene trifft, beweist, das er nun schon in die zweite Auflage geht. „Auch die Lehrer müssen über Medienkompetenz verfügen, deshalb organisieren wir als Autoren der Broschüre auch Weiterbildungen zum Thema“, führt Glaw aus. Denn dass die Schule im digitalen Zeitalter auch qualifizierte Lehrer erfordert, ist nun auch in der Waldorflehrerausbildung angekommen. Deshalb richtet beispielsweise das Lehrerseminar an der Freien Hochschule Stuttgart zum kommenden Wintersemester erstmals einen Lehrstuhl für Medienpädagogik ein, dessen Besetzung momentan ausgeschrieben ist. Der Stelleninhaber soll dabei vor allem mit neueren Entwicklungen im Bereich der digitalisierten elektronischen Informationstechnologie vertraut sein. Auch die Alanus-Hochschule integriert bereits Medienpädagogik in ihre Lehrerausbildung. Als nächsten Schritt planen die Autoren des Readers eine neue Broschüre zum Thema Waldorfpädagogik und Medienmündigkeit – diesmal für Eltern.