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Archiv-Artikel

„Jeder soll Faust kennen“

LERNZEIT An der Waldorfschule lernen alle Kinder mindestens zwölf Jahre – egal ob sie später Handwerker oder Professor werden. Waldorf-Lehrer Matthias Farr erklärt, warum

Matthias Farr

■ 45, ist seit 1996 Geschäftsführer der Waldorfschule Wandsbek und dort Lehrer für Wirtschaft und Sport. Außerdem ist er Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft der Rudolf-Steiner-Schulen Hamburg. Er studierte zunächst Wirtschaftswissenschaften und später Waldorfpädagogik in Kiel

INTERVIEW KAIJA KUTTER

taz: Herr Farr wussten Sie, dass Hamburgs Jugendliche im Durchschnitt über 20 sind, wenn sie eine Ausbildung beginnen?

Ja, das habe ich auch gehört.

Nur eine Minderheit beginnt nach Klasse zehn eine Lehre. Ein Teil kommt in so genannte Warteschleifen. Haben Sie davon gehört?

Nein. Kenne ich nicht.

Es heißt, sie seien nicht ausbildungsreif. Die Waldorfschule behält alle Schüler länger, auch wenn sie einen Real- oder Hauptschulabschluss machen. Warum ist das so?

Weil wir nicht auf Schulabschlüsse hin ausbilden, sondern eine Menschenbildung betreiben, die einen Menschen entstehen lässt, der in Freiheit denken kann. Und dann in die Welt geht, um Gesellschaft zu gestalten und nicht, um in Gesellschaft zu funktionieren. Dazu gehört ein vollständiger Kanon von Bildungsinhalten, von Entwicklungs- und Fördermöglichkeiten, die für jeden jungen Menschen wichtig sind. Losgelöst davon, ob er Tischler wird oder Universitätsprofessor.

Wieso nicht elf oder 13 Jahre?

Die Waldorf-Pädagogik basiert darauf, dass jedes Lebensalter eine gewisse Entwicklungsphysiologie und -psychologie des Kindes mitbringt. In gewissen Jahren werden gewisse Kräfte entwickelt. Zur Urteilsfähigkeit und zum klaren Denken kommen Sie in späteren Jahren. So ist zum Beispiel die Faust-Epoche in der zwölften Klasse angesetzt. Weil ich gerade aus der Faust-Aufführung komme, sage ich das. Das Menschheitsentwicklungsdrama, Goethes Faust – damit soll sich jeder Jugendliche beschäftigen, egal was er später in der Welt macht. Es gibt viele andere Dinge, von denen wir sagen, das soll der junge Mensch mitnehmen. Zum Beispiel das Zwöftklass-Spiel als eine soziale Tat.

Das ist ein Theaterspiel.

Ein Theaterspiel, in dem nicht nur eine Rolle gespielt wird. Da gibt es biografische Durchbrüche für einige. Da gibt es Zusammenhänge, die die jungen Menschen erfahren, die sie vorher nicht hatten. Das sehen wir jedes Jahr wieder. Deshalb gehört das zum Menschwerden dazu. Wir haben als Grundtenor eine sehr generelle Menschenbildung und wenig Spezifikation. Die gibt es auch. Zum Beispiel übernimmt ein Schüler in der Zwölften eine fachvertiefende Arbeit. Da baut der eine einen ergonomischen Schreibtisch, der andere geigt eine Bachsonate, die dritte forscht über Chaostheorie.

Es gibt Kinder, die sind schon in der 8. Klasse schulmüde. Gibt es das bei Waldorf nicht?

Alle Phänomene, die es an staatlichen Schulen gibt, gibt es bei Waldorf auch. Aber ich glaube, dass sich diese Krisen auf einem niedrigeren Niveau abspielen.

Könnte jedes Kind den Waldorfabschluss machen?

Jeder Schüler. Und wenn Sie die Bildungsaufgaben in unserer Stadt sehen, da ist eine ja die Integration von Migranten. Da beteiligen wir uns im Prinzip nicht, weil die Migranten uns nicht aufsuchen. Aber an der Frage, wie bei Schülern, deren Bildungsbiografie im Grunde beendet ist, diese doch noch zu einem guten Ende geführt werden kann, liegt eine große Stärke der Waldorfpädagogik. Wir haben Schüler, die austherapiert sind an allen anderen Schulformen, zu uns kommen und dann zu höheren Abschlüssen geführt werden. Das hat damit zu tun, dass man hier ohne Angst und ohne Noten lernt und der individuellen Entwicklung Raum gibt. Wenn ein Kind in der zweiten Klasse noch nicht lesen kann, dann lernt es das eben in der vierten.

Und Sie Handwerken viel.

Bei uns beginnt die handwerkliche Ausbildung in der 1. Klasse. Das machen wir nicht, weil wir wollen, dass viele Näher oder Schreiner werden, sondern weil es wichtig ist, die Welt erst mit der Hand zu begreifen und dann mit dem Kopf. Wenn sie unseren Schreiner-Bereich sehen, würden sie denken, dass fertige Tischler dabei rauskommen. Wir haben einen Teil Berufsschule in unsere Schule hineingeholt. Im Bereich des Nähens wird hier von der Pike auf das Handwerk gelernt. Das findet große Anerkennung in der Innung. Wenn wir drüber nachdenken wollten, könnten wir tatsächlich so einen Übergang Schule-Beruf schaffen, wo man sagt, okay, der geht nicht zwölf Jahre, sondern 13 oder 14 zur Schule und macht damit gleich eine Lehre. Aber wir haben nicht die Klientel dafür. Wir sind Großstadtschule, wo das Abi im Vordergrund steht.

Sie sagen, Einwanderer bleiben fern. Tun Sie was dagegen?

Wir sagen, jede fremde Kultur bereichert uns. Das zweite ist, dass man nicht auf allen Schauplätzen agieren kann. Wenn sie 35 Kinder in der Klasse haben, und dann sechs nicht Deutsch können, dann funktioniert es nicht. Dann müssten wir uns umstellen. Der Waldorfschulverband hat die Migrantenfrage insofern angepackt, als dass in Wilhelmsburg gerade eine interkulturelle Waldorfschule entsteht. Die wird nächstes Jahr gegründet, mit 20 Schülern aus 17 Nationen. So ein Modell gibt es schon in Mannheim.

Lehnen Sie Kinder ab, die nicht gut Deutsch können?

Es melden sich keine an.

Nur die Bildungsbürger?

Das stimmt. Es hat nichts zu tun mit dem Geldbeutel. Wir haben auch viele Arbeiterkinder, aber unsere Eltern sind bildungsnah.

Wie viele machen Abitur?

Von einer Grundschulklasse machen rund 55 Prozent Abitur.

Gibt es Schüler, die ohne Abschluss die Schule verlassen?

Nein. Es gibt welche, die nach der mittleren Reife, nach der elften Klasse, abgehen. Wir möchten jedes Kind bis zur zwölften Klasse einschließlich haben. Aber wir leben nun mal in dieser Welt, da machen alle anderen nach der zehnten diesen Abschluss. Deswegen haben wir das vor fünf Jahren umgestellt. Seither gibt es ungefähr zehn von 70 Schülern, die uns verlassen. Das tut uns Leid, weil die zwölfte Klasse so wichtig ist.

Was wird aus Waldorfschülern?

Es gibt eine empirische Studie, die bescheinigt, dass die Waldorfschüler sich in der Welt zurecht finden. Das Klischee, sie würden weltfremd erzogen, wird dort entkräftet. Sie sollten sich mit Schülern unterhalten. Einem Funktionär wie mir glaubt man ja am wenigsten.

Sollten auch Staatsschulen alle Schüler länger behalten?

Es ist in unserem Sinne, dass eine Bildungskarriere nach der zehnten Klasse nicht endet.

Staatliche Schulen haben schon einiges von Waldorf kopiert. Stört sie das?

Wenn eine Methode gut für die Kinder ist, sollen es alle machen. Natürlich stehen wir im Wettbewerb, aber wir haben unser Segment.