„Dann muss man wieder arbeiten …“

BLACKBOX NORDKOREA Der Führer sorgt sich, und auch Proleten lieben. Der Literaturwissenschaftler Brian Myers über das Kulturleben in einem totalitären Staat

■ Der US-Amerikaner Brian Reynolds Myers studierte Sowjetstudien an der Ruhr-Universität Bochum und promovierte 1992 über nordkoreanische Literatur an der Universität Tübingen. Er lehrte viele Jahre lang nordkoreanische Literatur an verschiedenen südkoreanischen Universitäten und ist heute Professor an der Dongseo Universität in Busan, Südkorea. In seinen Büchern „Han Sõrya and North Korean Literature“ und „The Cleanest Race“ setzt er sich mit der literarischen und politischen Kultur Nordkoreas auseinander. Katharina Borchardt ist Radiojournalistin und traf Myers in Seoul, Südkorea zum Gespräch.

INTERVIEW KATHARINA BORCHARDT, SEOUL

taz: Herr Myers, Sie forschen bereits seit Langem über nordkoreanische Literatur. Wie kommen Sie an nordkoreanische Publikationen heran?

Brian Myers: Das ist ganz einfach: Im Jahr 2000 haben Nord- und Südkorea ein Abkommen darüber geschlossen, dass die Südkoreaner hier in Seoul ein „Information Center on North Korea“ aufbauen. In dieser Bibliothek kann man viele nordkoreanische Romane finden. Auch die ganz neuen.

Und wie sieht es mit älteren Publikationen aus?

Es hat in Nordkorea Mitte der 1960er Jahre eine Art Minikulturrevolution gegeben. Die war nicht so gewalttätig wie die Kulturrevolution in China, aber trotzdem stellte sie eine kulturelle Zäsur dar. Alle Bücher, die vor 1965/66 geschrieben wurden, sind heute praktisch verschwunden. Man findet sie nicht mehr in Nordkorea, und viele von ihnen bekommt man auch hier in Seoul nicht. Wenn man Glück hat, findet man sie allerdings in der Kongressbibliothek in Washington, D.C.

Weil die Kongressbibliothek in den USA schon früher nordkoreanische Bücher gesammelt hat. Haben das die Südkoreaner nicht getan?

Doch, die bekannteren Romane aus Nordkorea sind auch in Seoul vorhanden. Aber die weniger bekannten findet man wirklich leichter in den USA.

Kommt in das „Information Center on North Korea“ jeder rein, oder braucht man dafür eine bestimmte Genehmigung?

Vor fünf Jahren war es noch einfacher hineinzukommen. Damals gab es eine etwas linkere Regierung hier in Seoul, und die erlaubte es jedem, reinzukommen und auch Bücher auszuleihen. Jetzt aber braucht man dafür ein Empfehlungsschreiben. Momentan haben wir hier die konservative Regierung unter Lee Myung Bak. Wenn man zu viel Interesse an Nordkorea zeigt, ohne dafür einen sehr guten Grund zu haben, also ohne zum Beispiel Wissenschaftler zu sein, dann werden einem unangenehme Fragen gestellt.

Seit Mitte der 1940er Jahre gibt es nun nordkoreanische Literatur. Hat sie sich in dieser Zeit sehr stark weiterentwickelt? Oder sind die politischen Vorgaben immer gleich geblieben, sodass auch die Geschichten bis heute mehr oder weniger ähnlich ausfallen?

Die nordkoreanische Literatur ist nicht so ideologisch wie etwa die chinesische Literatur, die während der Kulturrevolution geschrieben wurde und in der jede Figur pausenlos von Mao oder von der Revolution schwärmte. Es gibt in nordkoreanischen Geschichten oft weite Strecken, in denen gar nicht explizit über Politik gesprochen wird. Da reicht es aus, das einfache Leben der Bauern zu beschreiben und zu vermitteln, wie toll es ist, in Nordkorea zu leben. Diese Geschichten sind ziemlich langweilig, denn es gibt darin gar keine echten Konflikte. In nordkoreanischen Romanen gibt es nur Personen mit kleinen Macken, etwa eine Arbeiterin, die ein bisschen zu eitel ist. Solche Probleme können im Laufe einer Geschichte sehr leicht gelöst werden. Diese Topoi gibt es seit dreißig, vierzig Jahren, sodass sich sogar Kim Jong Il schon darüber beschwert hat, dass alle Geschichten sich ähneln.

Und das Böse kommt aus dem Ausland, aus den USA, Südkorea oder Japan?

Japaner tauchen hauptsächlich in historischen Geschichten auf. In Romanen, die in der Gegenwart spielen, kommt das Böse aus den USA oder aus Südkorea. Es wird in Nordkorea generell viel über den schädlichen Einfluss der südkoreanischen Kultur gesprochen. Trotzdem fliehen viele Menschen aus Nordkorea nach Südkorea. Das ist momentan ein großes Problem, aber das können nordkoreanische Schriftsteller nicht so direkt in ihren Werken ansprechen. Sie weichen dann auf Parabeln aus, um ihre Mitbürger vor großen Fehlern zu warnen. Zum Beispiel schreiben sie über ein Eichhörnchen, das sich zu weit vom Baum entfernt hat und verhungert ist. Die Nordkoreaner wissen natürlich, wie man diese Geschichten zu deuten hat.

Wenn die südkoreanische Kultur einen schädlichen Einfluss auf die Nordkoreaner nehmen kann, heißt das offenbar, dass einiges aus Südkorea nach Nordkorea eindringt. Was denn zum Beispiel?

Die nordkoreanische Arbeiterpartei gibt jetzt offen zu, dass sie ein Problem vor allem mit südkoreanischen DVDs hat, die eingeschmuggelt werden. Außerdem werden Fernseher aus China illegal eingeführt, mit denen man im Gegensatz zu den nordkoreanischen Geräten auch das chinesische Fernsehprogramm empfangen kann. Die Partei warnt die Nordkoreaner, dass das alles ein Komplott der CIA sei, die diese Sachen schickt und damit den nordkoreanischen Sozialismus zerstören will.

Werden in Nordkorea eigentlich auch Liebesgeschichten publiziert?

Ja, es gibt Liebesgeschichten. Aber die Helden verlieben sich meistens ineinander, weil die beiden so gute Arbeiter sind.

Gibt es in Nordkorea trotz aller Kontrolle denn keine inoffizielle Literatur?

Zunächst einmal existiert in Nordkorea keine sogenannte graue Literatur und auch keine Samisdat-Literatur, von der wir irgendetwas wissen. Es gibt nicht einmal kritische Schriftsteller, wie es sie etwa mit Christa Wolf oder Uwe Johnson in der DDR gegeben hat. Die nordkoreanischen Flüchtlinge, mit denen ich in Südkorea gesprochen habe, haben mir das bestätigt. Ob das daran liegt, dass in Nordkorea alles so streng kontrolliert wird, oder ob die Leute einfach kein Verlangen nach solchen Büchern verspüren, weiß ich nicht.

Oder ob den Autoren über die Jahrzehnte die Fantasie verloren gegangen ist?

Das kann natürlich auch sein. Außerdem muss einem klar sein: Koreaner lesen – das kann ich ganz pauschal sagen – insgesamt nicht so gern, wie etwa die Osteuropäer gelesen haben. Auch der durchschnittliche Südkoreaner liest laut Umfragen nur insgesamt etwa drei Stunden pro Woche, Zeitungslektüre eingeschlossen. Das mag daran liegen, dass Koreaner nicht so gern allein, sondern lieber in Gruppen sind. In Nordkorea werden Gruppenaktivitäten noch dazu sehr stark vom Staat initiiert. Außerdem braucht man abends Strom fürs Lesen, und daran fehlt es in vielen Ortschaften im Norden. Da müsste man also erst einmal seinen Generator anschmeißen, wenn man denn einen hat. Und so wichtig ist es für die Leute dann auch nicht, einen Propagandaroman zu lesen.

Dann rät er ihr, sich wärmer anzuziehen, damit sie sich nicht erkältet, und dann brechen alle in Tränen aus

Und wenn es tags drauf wieder hell wird, muss man wieder arbeiten?

Dann muss man wieder arbeiten, und der Staat sorgt dafür, dass die Leute von morgens bis abends in der Gruppe sind. Morgens müssen sie zur Fabrik gehen, und dort wird zum Beispiel aus der Tageszeitung vorgelesen. Nach der Arbeit folgen oft Lerneinheiten zu den Gesammelten Werken von Kim Il Sung oder Kim Jong Il. Wenn die Leute schließlich abends gegen elf Uhr nach Hause kommen, wollen sie nur noch ins Bett gehen und nicht mehr lesen.

Zum Beispiel Geschichten über Kim Il Sung oder Kim Jong Il. Tauchen die beiden immer noch so häufig als Figuren in fiktionalen Texten auf?

Ja, das ist immer noch so. Dass historische Persönlichkeiten fiktionalisiert werden, hätte es in der DDR oder der Sowjetunion nicht gegeben. Aber in nordkoreanischen Romanen und Erzählungen kommt das oft vor. Nordkoreanische Autoren haben das Recht, Kim Jong Il in völlig fiktive Handlungen einzubeziehen und seine Gedanken in diesen Szenen zu beschreiben. Solange er sich in den Geschichten so verhält, wie er sich üblicherweise verhält, ist das okay. Es gibt übrigens auch viele Erzählungen über die berühmten Vor-Ort-Anleitungen, die Kim Il Sung oder Kim Jong Il bei ihren Besuchen in Fabriken oder auf Bauernhöfen vornehmen. Da werden ständig neue Geschichten hinzuerfunden.

Diese Vor-Ort-Anleitungen gelten westlich orientierten Lesern als totaler Wahnsinn. Kim Il Sung und Kim Jong Il können offenbar alles und vor allem: alles besser! Glauben Nordkoreaner wirklich an solche Geschichten?

Diese Geschichten sind nicht so wörtlich zu nehmen. In ihnen geht es nicht so sehr darum, was genau die Führer sagen, sondern es geht darum, dass sie sich auf den Weg bis zu den entlegensten Fabriken gemacht haben, weil sie so besorgt um ihr Volk sind. In jeder Kurzgeschichte und in jedem Roman über einen solchen Besuch gibt es immer eine Szene, in der Kim Il Sung oder Kim Jong Il merken, dass zum Beispiel eine Arbeiterin nicht warm genug angezogen ist. Dann rät er ihr, sich wärmer anzuziehen, damit sie sich nicht erkältet. Und dann brechen alle in Tränen aus. Es geht hier nicht um ein revolutionäres Bewusstsein, sondern allein um die Emotion dem Führer gegenüber.

Kommt Kim Jong Ils Sohn und sein offenbarer Nachfolger Kim Jong Un auch schon in literarischen Werken vor?

Nein, noch nicht. Die nordkoreanische Regierung tut sich immer noch schwer mit Kim Jong Un. Näheres über seinen Lebenslauf wird bisher nur mündlich berichtet, und in nordkoreanischen Zeitungen wird er nur recht vage gelobt. Offiziell wurde noch nicht einmal explizit bestätigt, dass er der Sohn von Kim Jong Il ist, auch wenn das allen Nordkoreanern klar sein dürfte. Japaner, die in Nordkorea gewesen sind, haben sogar von Gerüchten erfahren, dass der Staat überlegt, Kim Jong Un nicht als Sohn von Kim Jong Il aufzustellen, sondern als Sohn von Kim Il Sung.