Seefahrers Unruh

235 maritime Kurzgeschichten hat der mare-taz-Literaturwettbewerb erbracht. Die taz druckt die ersten fünf Plätze ab. Heute: Platz eins, eine Geschichte von Max Dörflein

Niemand sah ihn je, und auch die Jury weiß nicht, wer das ist: der Seebischof aus der Geschichte „Seefahrers Unruh“, die den ersten Preis des taz-mare-Literaturwettbewerbs gewann. Autor ist der 19-jährige Max Dörflein aus dem fränkischen Großeibstadt. Kürzlich ist er nach Würzburg gezogen, wo er sich für Political and Social Studies einschrieb. Fernziel ist der Journalismus. Das können wir nur unterstützen! Details gibt’s bei der Preisverleihungs-Feier am 2.12. um 19 Uhr auf dem Feuerschiff im Hamburger City Sporthafen, Vorsetzen, U-Bahnstation Baumwall. Katja Danowski vom Deutschen Schauspielhaus liest die fünf erstplatzierten Texte. Dazu singen SängerInnen des GrooveChors. Einlass ist ab 18 Uhr, der Eintritt ist frei. Wir laden herzlich ein! DIE JURY

Man hatte „Seefahrers Ruh“ direkt hinter dem Deich errichtet, ein schweres, wuchtiges Backsteingebäude aus der Zeit der Jahrhundertwende. Der einzige Tribut an die Moderne war die auf Stahlstelzen stehende Plattform, die über den Deich hinweg bis ans Meer führte.

„Ich hab ihn gesehen damals, musst du wissen.“

„Wen gesehen, Großvater?“

„Den Seebischof. Leibhaftig.“

„Den Seebischof?“

Die Anstaltsleiterin hatte ihn am Eingang des Gebäudes erwartet, um ihn zu seinem Großvater zu führen. Im immergleichen Abstand war sie neben ihm hergelaufen, hatte immer wieder einem der alten Männer zugenickt oder ihnen die Hände geschüttelt, ein sehr herzlicher Umgang, wie ihm auffiel. Sie liefen durch niedrige, verwinkelte Korridore, es erinnerte ihn an die alten Küstenfrachter, auf denen sein Großvater gefahren war. Unvermittelt tauchten aus irgendwelchen Seitengängen oder Türrahmen Männer in Ölzeug oder Norwegerpullis auf, alle gleich aussehend, wie ihm schien, bärtig, wettergegerbt, weißhaarig. Klischeeseemänner.

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Jetzt also auch noch den Seebischof. Schon seit einer Dreiviertelstunde durfte er sich anhören, was sein Großvater alles gesehen hatte. Seeschlangen, singende Winde, grüne Wale. Also schwieg er lieber.

„Ja, den Seebischof. Damals, in der Adria. Es war Nacht, wir sind aufgetaucht, um unsere Batterien zu laden, als dieser Sturm aufzog. Erst war da das Elmsfeuer, es zischte an den Masten, die Haare stellten sich uns auf!“ Der alte Mann lachte, wobei, es klang eher wie ein Grummeln, und dazu wackelte er in seinem Sessel hin und her. „Wir wollten schon tauchen, ich war der Letzte auf dem Turm, die Wellen gischten übers Deck, und da war er.“

Auf dem Weg zu seinem Großvater hatte die Leiterin die ganze Zeit über geredet, trotz seines offenkundigen Desinteresses (wozu sollte es ihn auch interessieren, deswegen war er ja auch nicht gekommen, er war gekommen, weil sein Großvater es gewollt, gefordert hatte. Geschrien hatte er am Telefon, als ginge es um Leben und Tod – „und nur du! Kein anderer!“). Irgendetwas von „Anstaltsphilosophie“, aber er wusste es schon nach ein paar Minuten nicht mehr.

„… Wissen Sie, wir haben es uns zum Ziel gesetzt, unseren Bewohnern möglichst viel von ihrem alten Leben zu bieten. Natürlich, wir können sie nicht auf See schicken, bedenken Sie das nur einmal!“ – ein kurzes, helles Lachen, als aber von ihm kein Lachen kam, verstieg sie sich lieber wieder aufs Reden – „… aber dennoch. Wenn sie in ihrer alten Kleidung herumlaufen wollen, dann lassen wir sie auch … Das ist doch nur natürlich, finden Sie nicht? Und wenn die Sehnsucht ganz groß wird, dann können Sie ja auch hinaus auf die Plattform, dann sind sie dem Meer so nah wie nur irgend möglich und vertretbar.“ Ein einbeiniger Winzling mit Kapitänsmütze saß in einem Stoffsessel und spielte Schifferklavier. Noch so ein Klischee.

Sollte er ihn bemitleiden oder beneiden? Schließlich glaubte er an das, was er erzählte, fest und innig, und war das nicht irgendwie beneidenswert? Der junge Mann konnte das alles nicht, er kannte die Realität (schließlich war er ja Meeresbiologe), wusste, dass es keinen Seebischof gab, ja nicht einmal so viele Leben im Meer wie früher. Aber er schwieg weiter, ließ den Großvater reden.

„Wirklich, da schwamm er, keine zehn Meter von mir entfernt, die rote Bischofsmütze auf dem Kopf, und wenn es blitzte, dann schien er wie von innen zu leuchten. Und er lächelte, er lächelte mir zu! Ich rief etwas, irgendwas, ich weiß nicht mehr, aber er antwortete mir nicht, vielleicht konnte er mich im Sturm nicht hören. Nein, er nickte nur. Im nächsten Moment zerrten sie mich die Luke hinunter, und wir tauchten ab. Niemand außer mir hatte ihn gesehen.“

Alle waren sie auf irgendeine Art und Weise seltsam in „Seefahrers Ruh“, der Beruf hatte auf alle abgefärbt. Bei vielen war es der normale Prozess der Entgeisterung, andere aber – unter ihnen die meisten Veteranen der Stürme, Schiffbrüchige, über Bord Gegangene – schienen in einer Schleife gefangen zu sein, sie lebten immer noch in ihren glorreichen Meerestagen, bellten Befehle auf Platt oder gar noch Ostpreußisch.

Plötzlich begann der Alte zu singen. Sein Enkel kannte das Lied nicht, verstand es auch kaum, hatte er doch nie wirklich Friesisch gelernt, als Stadtkind. Der Großvater schmetterte es mit voller Inbrunst, sein kompakter Körper wackelte dazu wieder hin und her, wie bei seinem Lachen, aber das Lied erschien holprig und unvollständig, so als hätte er es selbst erdacht. Der junge Mann verstand nur ein paar Worte, und eines davon war „Seebischof“.

Die Leiterin blieb vor dem Zimmer seines Großvaters stehen.

„Ihr Großvater ist ein sehr schwerer Fall. Schwerstmögliche Zerrüttung. Bitte verstehen Sie, dass wir ihn nicht herauslassen können.“

Der junge Mann nickte. „Aber natürlich.“

Der Großvater polterte immer noch vor sich hin, als dem jungen Mann klar wurde, dass es keinen Sinn mehr hatte zu warten. Diesen Besuch hätte er sich sparen können.

„Ich geh jetzt lieber wieder, Großvater.“

Langsam erhob er sich von seinem wackeligen Holzstuhl und drehte sich zur Tür um, als der Alte plötzlich anfing zu schluchzen. Er drehte sich um, und da sah er ihn sitzen, zusammengesunken, die Hände vorm Gesicht.

„Ich habe ihn nie wieder gesehen. Kein einziges Mal. Gesucht habe ich ihn, jedes Mal, wenn ich draußen war, hab aufs Wasser gestarrt. Manchmal stundenlang. Ich wusste, dass er irgendwo da draußen sein musste, aber ich konnte ihn nie finden. Die anderen hielten mich schon für verrückt. Aber ich bin doch nicht verrückt!“

„Können Sie mir sagen, was mit Ihrer Großmutter geschehen ist?“

„Nein, keiner kann das. Sie hat sich einfach so aufgehängt.“

Der junge Mann ging ein paar Schritte auf seinen Großvater zu, kniete vor ihm und strich ihm sanft über die Knie.

„Großvater, es gibt keine Seebischöfe. Auch keine Schlangen …“

Aber der Alte hörte nicht auf ihn. Er schluchzte zwar nicht mehr, aber er hielt den Kopf immer noch gesenkt, murmelte irgendwas vor sich hin. „Sie wollte es mir wegnehmen, das Meer … Wollte ihn mir verbieten!“

„Wer, Großvater? Wer wollte dir was wegnehmen, verbieten?“

„Deine Großmutter. Sie wollte es mir verbieten, rauszufahren. Hat gesagt, sie würde mich verlassen. Hat gesagt, ich sei wirr im Kopf. Und dann kam die Sturmnacht.“ Er blickte wieder auf, plötzlich schien ein Glühen in seine Augen gesprungen zu sein, die Stimme war wieder fest und klar. „Herrlich schwarzer Himmel, Blitze im Dutzend. Wie damals in der Adria. Kein Zweifel, genau so. Mir war klar, das war die Gelegenheit, IHN wiederzufinden. Aber sie wollte mich nicht rausfahren lassen. Und da hängte ich sie auf.“

Es kam kein Wort mehr von seinem Großvater, und auch er sagte keinen Ton, sondern drehte sich nur um und verließ das Zimmer, den Flur, das Gebäude, stürmte an Irren und weniger Irren vorbei, grüßte nicht einmal mehr die Leiterin, setzte sich in seinen Wagen und brauste davon. Er fühlte sich immer noch taumeln, als er über die Deichstraße raste und „Seefahrers Ruh“ schon längst nicht mehr sehen konnte. Ob es wirklich alles so gewesen war? Oder doch nur Einbildung? Aber nein, es musste ja, es war doch gerade eben erst geschehen.

Zuhause, bei seinem Vater.

„Und, was gab es? Was wollte er dir sagen?“

„Nichts, absolut nichts. Falscher Alarm.“

Über dem Meer zog ein Sturm auf.