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Archiv-Artikel

Schafft angepasstere Familien

betr.: „Immer mehr psychisch krank“, taz vom 28. 11. 07

Die taz meldet unter Bezug auf ap völlig unkritisch und trägt so zu dem bei, was die Auftraggeber der Meldung, BKK und Techniker-Krankenkasse (TKK), der Öffentlichkeit beibringen möchten: „Leistungsdruck und mangelnder Rückhalt in der Familie haben zu einem dramatischen Anstieg der psychischen Erkrankungen geführt.“ Genau so geht es: Wir können uns zurücklehnen. Es liegt an den Familien! Würden die nicht versagen, wäre doch der Leistungsfetischismus unserer globalisierten Gesellschaft gar kein Problem. Wir brauchen uns nicht kritisch mit dem Leistungsanspruch, der schon unsere Kinder umhaut, zu befassen. Schafft angepasstere Familien!

Dann geht es weiter: Über die Zunahme psychischer Störungen von 25 Prozent seit 2000 heißt es: „Hauptgrund ist laut TKK der Anstieg bei Depressionen, Schizophrenien und alkoholbedingten Behandlungen.“ Jetzt sagt also auch die pseudoprogressive TKK: Wir haben kein gesellschaftliches Problem! Nein, es sind die Einzelnen, markiert mit modernen, gesellschaftskonformen Diagnosen, die unserer Gesellschaft Kosten verursachen.

Das hat Prof. Haubel (Universität Frankfurt, Sigmund Freud Institut) am Beispiel der „modernen“ Diagnosekategorien „narzisstische Depression, chronisches Müdigkeitssyndrom, ADHS“ gezeigt: Es handelt sich um Kategorien, die, zum Teil gepuscht durch eine entsprechende Lobby, dazu dienen, den Betroffenen und noch viel mehr die Gesellschaft in ihrer Verantwortung zu entlasten. Optimal ist es dann, wenn man Gene verantwortlich machen kann und gegen alle wissenschaftliche Erkenntnisse ein Medikament benannt werden kann, wie Ritalin gegen ADHS. Nicht die Gesellschaft in Form der Institution Schule muss sich dem Schüler anpassen, sondern der Schüler muss sich der Schule anpassen.

Ich versuche in der Arbeit mit meinen Patienten ganz antiquiert immer noch zu unterscheiden zwischen der persönlichen neurotischen Fixierung und den gesellschaftlichen Bedingtheiten der Erkrankung, statt sie im Sinne der modernen Diagnosekategorien als „Anpassungsstörung“ abzutun. BERNHARD MUENK, Freiburg