: 21 nicht gelöschte Spulen
Originalmitschnitte vom ersten großen RAF-Prozess: die Radio-Doku „Die Stammheim-Bänder“ (WDR 3, 22 Uhr)
Es sind Stimmen aus einer untergegangenen Zeit, und dass sie noch zu hören sind, ist wohl dem Geschichtsbewusstsein eines Gerichtsprotokollanten geschuldet. Anders als angeordnet, hatte der nicht alle Tonbandmitschnitte gelöscht, die ab 1975 im ersten großen Prozess gegen die Gründer der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) als Gedächtnisstütze für die Wortprotokolle des Gerichts angefertigt wurden. So kam es, dass 2003 eine Archivarin des Ludwigsburger Staatsarchivs im Keller des Oberlandesgerichts Stuttgart auf eine Schachtel mit 21 Tonbandspulen stieß.
Die Bänder enthalten 13 Stunden Orginalton aus dem Stammheimer Gerichtsgebäude in der Zeit zwischen August 1975 und Februar 1977. Einer der Verhandlungstage, der 141. von 192, ist vollständig dokumentiert. Zwar sind bereits im September Auszüge aus den Bändern veröffentlicht worden, den Radioleuten des Westdeutschen Rundfunks gelang es aber nun, die Einwilligung fast aller noch lebenden Prozessbeteiligten zu erlangen. Entstanden ist so von Maximilian Schönherr die knapp einstündige Rundfunkdokumentation „Die Stammheimbänder – ein Prozess im Orginalton“. Zu hören sind unter anderem Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe, deren Verteidiger Otto Schily, Axel Azzola, Hans-Heinz Heldmann und Rupert von Plottnitz. Die Verhandlung führt über weite Strecken der Vorsitzende Richter Theodor Prinzig, der im Frühjahr 1977 wegen Befangenheit vom Verfahren ausgeschlossen wird.
Die Stimmung im fensterlosen Gerichtssaal ist – wie jetzt nachhörbar – durchaus rau. Es kommt zu erbitterten und lautstarken Wortgefechten zwischen Angeklagten, Verteidigern und Gericht. Den Angeklagten wird wiederholt das Wort entzogen, wenn sie nicht gleich aus der Verhandlung ausgeschlossen werden. Der Prozess kreist vor allem um die Frage der Haftbedingungen, Ulrike Meinhof spricht von einem Krieg gegen die Gefangenen und schreit: „Das ist Folter! Exakt!“ Andreas Baader will eine „Verpolizeilichung des Krieges“ erkannt haben, wie die anderen Angeklagten verlangt er eine „Anerkennung als ‚Kriegsge-fangener‘ “ gemäß der Genfer Konvention. Anwalt Azzola attestiert und beantragt „die Gefangenen unverzüglich in Kriegsgefangenschaft zu überführen“.
Erst am 65. Verhandlungstag, dem 20. Januar 1976, äußern sich die Angeklagten zu ihrer politischen Strategie. Gudrun Ensslin leitet diese mit dem Satz ein: „Proletarische Politik ist die bewusste Artikulation, die bewaffnete Interpretation des Widerspruchs im Imperialismus.“ So bizarr manche Ausführungen der Angeklagten heute anmuten, verstörend ist, dass keiner von ihnen den selbst ausgerufenen Krieg überlebt hat.
WOLFGANG GAST