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Archiv-Artikel

uli hannemann, liebling der massen Morgen wird es auch nicht besser

In der Hasenheide. Drei plaudernde Mädchen in Sportbekleidung schlendern gemütlich vor mir her. An der nächsten Weggabelung erwartet sie eine Erwachsene mit Stoppuhr. Obwohl schätzungsweise dreimal so alt, besitzt die Frau als einzige der vier eine sportliche Figur. „Soll ich euch gleich eine Fünf einschreiben, oder wird das morgen besser?“, fragt sie die Ankömmlinge. „Nee, fünf“, sagt eines der Mädchen cool. Die beiden anderen nicken kurz. Das riecht nach blindem Verständnis – man hat keine Sekunde lang das Gefühl, die Entscheidung hätte anders ausfallen können.

Mir gefällt das. Die souveräne Konsequenz dieser höchstens 15-Jährigen ist imponierend. Von wegen unreife Teenager! Die jungen Persönlichkeiten lassen sich nicht auf billige Art erpressen. Sie scheißen auf solch infame Sanktionsversuche einen großen Haufen aus Stolz, Spott und Gerechtigkeitssinn und reißen mit ihrer autonomen Art der Autorität die Larve vom Gesicht, um sie in all ihrer besudelten Lächerlichkeit bloßzustellen.

So wird aus Autorität nichts als Macht und aus Macht schließlich Machtlosigkeit. Die böse Turnlehrerin kann im ureigensten Wortsinn schlicht nichts machen. Die Macht macht nichts. Es ist echt der Hammer; wenn ich da nur mal so drüber nachdenke, finde ich das alles gerade ziemlich intelligent von mir. Doch leider handelt es sich um die Intelligenz eines Opportunisten – eine ungute, eine gefährliche Kombination. Die Jugendlichen sind zum Glück heute viel kritischer und aufgeweckter – ich jedenfalls war früher nicht so. Wenn mich irgendein Turn- oder Sonstwaslehrer fragte, „soll ich dir gleich eine Fünf einschreiben?“, so schrie und greinte ich bitterlich, warf mich in den Staub zu seinen Füßen, umschlang mit meinen dürren, schrundigen Ärmchen flehend seine stahlharten Beine und versprach alles zu tun, um nur ja keine Fünf zu bekommen, wenn es sein müsse, es sogar morgen besser werden zu lassen.

Peinlich, aber wahr. Allein wegen einer Fünf. Was ist dabei schon eine Fünf? Eine gottverdammte verschissene Zahl, sonst nichts. Wer hat denn Angst vor einer banalen Zahl, auch wenn sie am Ende über zukünftige Zeugnisse, Abschlüsse, Berufsmöglichkeiten, Arbeitslosigkeit, Armut, Verelendung, Krankheit und Tod entscheiden mag?

Mahatma Gandhi hätte über eine Fünf nur gelacht. Er hätte sie singend in Kauf genommen, allein für die Sache, so wie hier die Schülerinnen in der Hasenheide. Furchtlos opfern sie sich für das große Ganze und ordnen den persönlichen Erfolg den sittlichen Prinzipien der menschlichen Gemeinschaft unter. Wer sich dagegen notorisch erpressbar macht, wie so viele meiner 60er-Jahre-Generation, denen der postfaschistische Atem ihrer Erzeuger bereits in der Wiege eiskalt in den Nacken blies, lässt sich allzu leicht als willenloses Werkzeug der Totalitaristen missbrauchen. Man kann nicht eindringlich und früh genug warnen – nicht umsonst bezeichnet das Kürzel NS sowohl „Nationalsozialismus“ als auch „Notensystem“. Aus „der Lateinlehrer und der Schuldirektor“ wird schneller als man denkt „der Marschall und der Gefreite“.

Wer heute noch in leichten Trab verfällt, um feige eine Fünf zu vermeiden, wird schon morgen Willensstärkere und Unsportlichere abholen, foltern und erschießen, nur um eine Drei zu bekommen. Diese Zusammenhänge zu erkennen, darauf kommt es an. Wehret den Anfängen! ULI HANNEMANN