: Das kann ich auch später noch tun
PROKRASTINATION Leute schieben Dinge aus ganz unterschiedlichen Gründen hinaus. Das kann gut sein oder schlecht
VON ANNABELLE SEUBERT
Angenommen, Sie müssen diesen Text lesen, kommen aber nicht über den ersten Satz hinaus, weil sich da mal wieder dieser Fleck auf dem Fußboden vor dem Sofa, auf dem Sie gerade sitzen, in Ihr Blickfeld schiebt. Über den haben Sie sich schon ziemlich oft geärgert, und ziemlich oft wollten Sie ihn wegputzen, und ziemlich genau jetzt denken Sie das wieder.
Wer die Zeitung gerade zur Seite geworfen hat, um nun eifrig zu schrubben, ist, na ja, entweder vom Einstieg dieses Artikels gelangweilt oder ein erprobter Aufschieber. Einer, der sich sagt, „kann ich morgen noch lesen“, einer, der liebend gern Topfpflanzen gießt, wenn die Steuererklärung fällig ist. Ein „Prokrastinator“, wie Hans-Werner Rückert ihn nennt.
Rückert, 61, schmale Schultern, sanfte Stimme, ist darauf spezialisiert, dass Menschen ihm in einer halben Stunde ihr halbes Leben anvertrauen. Ein Psychoanalytiker, der vieles mit „Verstehe ich“ beantwortet und nickt und Kekse anbietet und die Wirklichkeit irgendwie so aussehen lässt, als sei sie ganz leicht. Möglicherweise ist das sein Job als Leiter der Studienberatung und Psychologischen Beratung an der Freien Universität Berlin, wo all die anklopfen, die einfach nicht mit ihrer Diplomarbeit anfangen, obwohl sie es längst müssten.
Also Herr Rückert, wer prokrastiniert?
„Wir alle ein bisschen.“
Und warum?
„Weil die eigentlich wichtige Aufgabe meistens schwieriger, herausfordernder und bedrohlicher für das Selbstwertgefühl ist.“
Wattestäbchen kaufen
Prokrastination (pro = für, cras = morgen) meint unser äußerst verbreitetes Verhalten, Dinge immer wieder zu verschieben, statt sie zu erledigen. „Der Begriff hat Konjunktur“, sagt Hans-Werner Rückert, „gerade in akademischen Kreisen, wo man nicht Sklave bestimmter Sach- und Zeitzwänge sein möchte.“ Warum heute schon loslegen, wenn es als streberhaft gilt, die Deadline von morgen einzuhalten. Kommt noch hinzu, dass dringend alte Handykontakte entrümpelt und Wattestäbchen gekauft werden müssten und das verstopfte Abflussrohr im Bad sowieso eine Komplettreinigung braucht.
Aber Prokrastination, diese Anstrengungsvermeidung, kann neben der normalen, eben akzeptablen Verschieberei auch krankhaft sein: Wenn sich die Vorsätze häufen, das Aufschieben kränkt und die Zeit, in der man darüber spricht, etwas machen zu müssen, es aber nicht macht, zur verlorenen, verdorbenen Zeit wird.
Rund zwanzig Prozent der Bevölkerung leidet laut einer Studie, die 2005 beim International Meeting on the Study of Procrastination in London vorgestellt wurde, unter chronischer Prokrastination. Vergangene Woche wurde eine Studie in Montreal veröffentlicht, die zeigt, dass Frauen etwas häufiger aus Perfektionismus prokrastinieren als Männer; Menschen über 25 Jahre schieben anstehende Aufgaben häufiger auf als die unter 25 Jahre. An der Universität Münster gibt es extra eine Prokrastinationsambulanz, in der Studenten das Fristeneinhalten lernen.
Zurück zu Ihnen
Und Sie, falls Sie überhaupt noch da sind, möchten nun wissen, wie schlimm es bei Ihnen ist?
Entweder Sie sind Erregungsaufschieber – und haben Glück. Weil Sie dann gern unter Druck arbeiten und einen Kick daraus ziehen, spät anzufangen. Sie gehören zu denen, die eine Dissertation in einer Woche schreiben und sie am letztmöglichen Abgabetermin in der letztmöglichen Minute schweißüberströmt dem Professor in die Hand drücken. Sie haben die „guten Geschichten“, wie Rückert sagt, und daran wollen Sie nichts ändern, das Aufschieben macht Sie aufregend und schützt zugleich vor dem Urteil anderer: Fällt die Dissertation nicht sonderlich gut aus, können Sie immer noch argumentieren, dies sei der fehlenden Zeit geschuldet – und nicht Ihren mangelnden Fähigkeiten.
Oder Sie sind Vermeidungsaufschieber. Dann prokrastinieren Sie, um unangenehme Gefühle zu vermeiden. Dann sind Sie vermutlich Perfektionist/Perfektionistin, haben Angst vor Misserfolgen oder prokrastinieren aus Trotz. Sie wollen rebellieren gegen eine Gesellschaft und Erziehung voller Regeln und Erwartungen. Auch das Gegenteil ist möglich: Sie rebellieren mit Prokrastination gegen eine sehr liberale Erziehung, in der, so sagt Hans-Werner Rückert, „es völlig egal war, ob man etwas tat oder nichts tat“. Vermeidungsaufschieber sind die Menschen, die dazu neigen, chronisch zu prokrastinieren und sich damit selbst im Weg zu stehen. Es sind die Leute, die sich Rat erhoffen von Rückert, der das Buch „Schluss mit dem ewigen Aufschieben“ geschrieben hat. Oft kommen Juristen zu ihm, deren Alltag von Fristen getaktet ist, oder Freiberufler, deren Abnehmer nur imaginär existieren. Oft sind es Menschen mit Hang zu Zwanghaftigkeit und Depression.
Zurück zu diesem Artikel. Wenn Sie dachten: „Ich könnte den ja eigentlich mal lesen“, dann waren ein paar Ihrer Nervenzellen im Kopf aktiviert, aber nicht breitflächig und schon gar nicht emotional vernetzt. Es hat keine Rückkopplung mit Ihrem Gehirn – genauer: Ihrem limbischen System, das für Stimmungen zuständig ist – stattgefunden. „Dort liegen diese guten Vorsätze, die wir haben, parat“, sagt Hans-Werner Rückert, „die aber nicht heiß werden.“ Es gibt ein Wort für diesen mangelnden Erwärmungszustand: eigentlich. Eigentlich könnte ich.
Haben Sie aber „Ich lese den Artikel“ gedacht und es wirklich getan, bis hierher, alle fünfzehn – kurzen – Absätze? Dann sollen Sie natürlich belohnt werden. (Das werden Sie nämlich in der Regel zu selten, was auch ein Grundproblem der Prokrastination ist.) Zur Belohnung gibt es drei Grundsätze, mit denen Sie zumindest die leichtere Form der Aufschieberitis überlisten können:
Erstens: Wenn Sie nicht wissen, wo Sie anfangen sollen, nehmen Sie die Mitte.
Zweitens: Belohnen Sie sich mit Pausen, in denen Sie weder fernsehen noch facebooken, sondern nichts tun. Nichtstun bedeutet Erholung fürs Gehirn.
Drittens: Belohnen Sie sich, wenn Sie aufs Bodenschrubben verzichtet und stattdessen diesen Artikel ganz gelesen haben – mit einem weiteren.