: Auch ohne Sinn geht das Leben weiter
MYSTERIEN Man muss die Bedeutungslosigkeit lieben: ein spätes, trostreiches Endspiel in Prosa von Milan Kundera
VON STEPHAN WACKWITZ
Obwohl „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ – das erste Buch Milan Kunderas nach einem zwölf Jahre andauernden Schweigen – den Untertitel „Roman“ trägt, könnte es nicht weiter entfernt sein von den Leseerwartungen, die wir auf diese Gattung gemeinhin richten. Weder herrscht Spannung, noch gelingt Illusion. Weder gibt es zur Identifikation einladende Figuren noch konventionelle Sinngehalte, die sich in fingierter Lebendigkeit gleichsam verstecken. Stattdessen herrschen in Kunderas kurzem erzählerischen Capriccio vollendete Künstlichkeit, das Wunder, die Unwahrscheinlichkeit, groteske Komik und ein sentenzenhaft offenes Bekenntnis des Erzählers zum Sinn des Ganzen.
Kundera ruft Formerinnerungen auf an alte, populäre, elementare, mündliche, improvisierte und in der Gegenwart halb vergessene Genres der dramatischen Tradition: Erinnerungen an das Marionetten- und das Kasperletheater, das Mysterienspiel, den Totentanz, die Commedia dell‘arte und die Slapstick-Komödie des frühen Stummfilms, deren Konventionen, Tricks und Figuren er in seiner romanhaften Prosa rekonstruiert.
Die sechs älteren Männer, die sich auf einer Pariser Cocktailparty mit unterschiedlichem Erfolg um Frauen und um Erkenntnis der Welträtsel bemühen, zitieren Pantalone, Dottore und Il Capitano: „die Alten“ der Commedia dell‘ arte. Die sich entziehenden, zu spät kommenden, zu früh gehenden und unerwartet wiedererscheinenden jungen Frauen, die „Ramon“, „d’Ardelo“, „Alain“, „Charles“, „Caliban“ und „Quaquelique“ zum Narren halten, sind in Wirklichkeit Colombinen. Wie das Krokodil im Kasperletheater tauchen der böse Stalin, der inkontinente Kalinin und die verschlingende Mutter der Psychoanalyse auf, stiften Klamauk und Chaos (Marx und Freud sind als Marionettenführer auf der Hinterbühne sichtbar). Engel und Filmstars kommen ins Spiel. Und als offen ausgesprochene Sinnbotschaft steht ein mittelalterlich anmutendes Vanitas-Motiv auf der vorletzten Seite: „Bedeutungslosigkeit, mein Freund, ist die Essenz der Existenz. Sie ist überall und immer bei uns. Sie ist sogar dort gegenwärtig, wo niemand sie sehen will: in den Greueln, in den blutigen Kämpfen, im schlimmsten Unglück. Das erfordert oft Mut, sie unter so dramatischen Umständen zu erkennen und bei ihrem Namen zu nennen. Aber es geht nicht nur darum, sie zu erkennen, man muss sie lieben, die Bedeutungsloigkeit, man muss lernen, sie zu lieben.“
Der Erzähler Kundera sagt, was ihn gegen Ende seines langen und erfolgreichen Lebens als Künstler und als politische Figur heute bewegt: „Wir haben seit langem begriffen, dass es nicht mehr möglich ist, diese Welt umzustürzen oder neu zu gestalten oder ihr unseliges Vorwärtsrennen aufzuhalten. Es gab nur noch einen einzigen möglichen Widerstand: sie nicht ernst zu nehmen. Aber ich stelle fest, dass unsere Witze ihre Macht verloren haben.“ Kunderas Kasperletheater in Prosa ist ein Endspiel. Es ist aufgeschlagen am Schlusspunkt der Politik und der Geschichte. Aber auch am Ende der Kunst.
Wie die Spiele der Commedia dell‘ arte, die Filme von Laurel und Hardy und wie die späten Stücke Heiner Müllers ist Kunderas Alterswerk komisch und traurig zugleich. „Wenn die Irrtümer verbraucht sind / Sitzt als letzter Gesellschafter / Uns das Nichts gegenüber.“ Diese Zeilen, die Brecht kurz vor seinem Tod schrieb, könnten als Motto über diesen Seiten stehen.
Aber auch das ist nicht schlimm. Das Leben geht auch ohne Sinn irgendwie weiter. Der Schluss des Buchs könnte als eine Schlüsselszene unserer Zeit in die europäische Literaturgeschichte eingehen. Es herrscht eine Stimmung wie am Ende von Fellinis Film „8[1]/2“: „Der Kinderchor ist schon in vollendetem Halbkreis aufgestellt, und der Leiter, ein zehnjähriger Junge, den Taktstock in der Hand, macht sich bereit, das Zeichen zu geben, damit das Konzert beginnt. Doch er muss noch ein Weilchen warten, da eine von zwei Ponys gezogene, rot-gelb gestrichene kleine Kalesche sich geräuschvoll nähert. Der Schnauzbärtige in seinem schäbigen alten Parka hebt seine Flinte. Der Kutscher, auch er ein Knirps, gehorcht und hält. Der Schnauzbärtige und der alte Mann mit Spitzbart steigen ein, setzen sich, grüßen zum letzten Mal die Zuschauer, die entzückt winken, während der Kinderchor anhebt, die Marseillaise zu singen. Die kleine Kalesche fährt an und verlässt den Jardin de Luxembourg über eine breite Allee und verschwindet langsam in den Straßen von Paris.“
Stalin und Kalinin fahren davon. Die Marseillaise wird langsam ausgeblendet. Die Tragödie des 20. Jahrhunderts geht als Komödie zu Ende – „damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide“, wie Marx irgendwo geschrieben hat. Der Sinn der Geschichte und der Kunst ist uns über all dem freilich verlorengegangen. Aber uns bleiben als Trost die Straßen von Paris (in jeder Stadt gibt es ein geheimes, inneres Paris). Uns bleibt dieses kurze, komische, traurige, wunderschöne Spätwerk Milan Kunderas, ein kleines Buch, das neben dem Apéritif und den Zigaretten auf einem Bistro-Tischchen Platz hat.
■ Milan Kundera: „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Hanser, München 2015. 144 S., 16,90 Euro