: Altmetall und Schrott
Viel mehr ist im Kriegsmuseum von Umuahia nicht zu sehen. Die Erinnerungen an den Überlebenskampf Biafras sind nur noch ein paar sorgfältig versteckte Überreste
AUS UMUAHIA MARC ENGELHARDT
Die überfüllte Hauptstraße von Umuahia liegt schon lange hinter uns. Unsicher kurvt der Taxifahrer über einen Lehmpfad, rechts und links eine Ansammlung von Holzhütten. „Dort drüben, das ist es!“, ruft endlich Freeman. Wir hatten Menschen am Straßenrand nach dem „Nationalen Kriegsmuseum“ gefragt, anscheinend nicht sehr bekannt in diesem abgeschiedenen Landesteil. Freemann war der Einzige, der davon gehört hatte und sprang, ohne zu zögern, zu uns ins Auto, um uns zu führen. Das Taxi fährt an einem verrosteten Stahlzaun vorbei und hält vor einem Tor, das gut vier Meter hoch in den Himmel ragt. Rechts und links wehen nigerianische Flaggen. Der Fahrer hupt.
Umuahia ist heute eine kleine Provinzhauptstadt im Osten Nigerias, ein paar Kilometer vom Highway zwischen Enugu und Port Harcourt entfernt. Doch Umuahia war einmal die Hauptstadt eines echten Staats, den General Emeka Odumegwu-Ojukwu am 30. Mai 1967 ausrief. „In dem Bewusstsein, dass keine Regierung außerhalb Ostnigerias unser Leben und unseren Besitz schützen kann, erkläre ich im Namen des Volkes die bisherige Region Ostnigeria zur unabhängigen Republik Biafra.“ Der Jubel unter der Mehrheit der gut sechzehn Millionen Einwohner, den ethnischen Igbo, war groß, erinnert sich Freeman, der damals sechs Jahre alt war. „In meinem Dorf wurde gefeiert, die ganze Nacht hindurch.“
Seit einem guten Jahr waren die Igbo Ziele von Übergriffen gewesen: Das schlimmste Massaker fand in der nordnigerianischen Stadt Kano statt, als ein Flug aus London auf dem Weg nach Lagos zwischenlandete. „Eine Horde Soldaten stürmte auf einmal in den Wartesaal“, berichtete damals ein Korrespondent des US-Nachrichtenmagazins Time, der an Bord der Maschine war. „Sie schrien: Wo sind die verdammten Igbo? Dann ermordeten sie jeden, der potenziell Igbo war, Zöllner, Kellner, Passagiere.“ Es folgte ein Blutbad in der ganzen Stadt. Am Ende, so Schätzungen, lagen dreitausend Igbo tot in den Straßen. In den kommenden Monaten folgten neue Pogrome, viele Igbo zogen sich in ihre Heimatregion zurück. Den Versprechen des Militärherrschers General Yakubu Gowon, die Igbo zu schützen, glaubte kaum jemand – schließlich hatte der aus dem Norden stammende Gowon im Juli 1966 eine Igbo-Militärregierung weggeputscht und ihre Exponenten ermorden lassen, so wie es die Igbo-Generäle vor ihm gemacht hatten.
Mit dem erst kürzlich entdeckten Öl, so die Hoffnung, könne man leicht einen eigenen Staat aufbauen – zumal Angehörige der nigerianischen Elite in Verwaltung und Militär nach der Unabhängigkeit von Großbritannien 1960 ethnische Igbo waren. „Unser Staat hat mehr Ärzte als das restliche Schwarzafrika“, ging ein Spruch in den ersten Tagen der Unabhängigkeit: Fünfhundert waren es laut der bis heute bestehenden Unabhängigkeitsbewegung. Siebenhundert Rechtsanwälte und dreihundert Ökonomen begannen über Nacht damit, eine Bürokratie für den von niemand anerkannten Staat aufzubauen. Binnen Wochen gab es Ministerien für Häuserbau, ländliche Entwicklung oder Tierhaltung. Botschafter wurden nach London und Paris entsandt. Doch der ordentlich verwaltete Frieden währte gerade mal einen guten Monat: Am 6. Juli griffen nigerianische Truppen die Sezessionisten an –mit der vollen Wucht einer technisch hochgerüsteten Armee.
Wenn die in eine löchrige Uniform gekleidete Frau, die nach minutenlangem Dauerhupen widerwillig das Tor öffnet, von der Existenz Biafras weiß, dann lässt sie sich das nicht anmerken. „Das hier ist nigerianisches Militärgelände“, weist sie uns zurecht, als wir nach den Relikten des Biafrakriegs fragen. „Parken nur hier vorne, keine Fotos erlaubt.“ Nach dem Gästebuch, das wir zusammen mit den vergilbten Eintrittszetteln bekommen, sind wir die ersten Besucher seit zweieinhalb Monaten. Im Hintergrund plärrt ein Transistorradio Bibelverse, während uns die Frau, die Maria heißt, im Laufschritt in ein flaches Betongebäude treibt. „Schnell, schnell, bevor der Strom ausfällt, wir haben keinen Generator.“
Im Innern des Kriegsmuseums steht die Luft von vierzig Jahren. Es gibt keine Fenster, eine Klimaanlage sowieso nicht. In Glaskästen verstauben nigerianische Militäruniformen. Handbeschriebene Tafeln informieren über Form und Farbe von Rangabzeichen. Keine Spur von Biafra – bis wir in einen abgeschlossenen Nebenraum geleitet werden. „Das war der Regierungsbunker, nachdem Ojukwu und seine Leute im Oktober 1967 aus Enugu fliehen mussten“, flüstert Freeman, während wir eine steile Treppe hinabsteigen. Auf beiden Seiten hängen Generäle: links Nigerianer, rechts die Funktionsträger der Biafraarmee. Ein Foto klebt auf beiden Seiten. „Das ist Victor Banjo, der die 101. Einheit der biafranischen Armee ins Verderben geführt hat.“ Als Kollaborateur mit der nigerianischen Armee wurde er von einem Militärgericht in Biafra zum Tode verurteilt, bevor der Krieg im Januar 1970 endgültig verloren und Biafra Geschichte war.
Ein paar Räume weiter, in einer dunklen Ecke des Bunkers, verfällt ein wohnzimmergroßer Metallkasten, der einmal ein Kurzwellensender gewesen sein muss. „Hier ist die Stimme Biafras aus Enugu“, meldete der von Ojukwu handverlesene Sprecher selbst noch, als Enugu schon seit mehr als einem Jahr gefallen war.
„Bis kurz vor Ende des Kriegs haben Hunderttausende geglaubt, das Biafras Truppen kurz vor einem Sieg stünden, trotz des Elends überall“, erinnert sich Freeman. Ojukwu, der Herrscher der Herzen, wollte sich seiner wichtigsten Waffe, der Moral seiner Bevölkerung, sicher sein. Viel mehr hatte er auch nicht. Zwar meldeten sich im Eifer der Begeisterung für ihr neues Vaterland in den Wochen nach Kriegsbeginn zehntausende Freiwillige in den Baracken – doch es gab keine Uniformen, keine Waffen, kein militärisches Gerät.
Nigeria erhielt Unterstützung aus Großbritannien und Russland – Biafra war auf die Ideen seiner Ingenieure angewiesen. Während nigerianische Truppen eine Blockade um den Sezessionistenstaat errichteten, die bis 1970 anhalten sollte, präsentierten sie stolz ihre erste eigene Erfindung: den Roten Teufel, einen in einer Fabrik in Port Harcourt umgebauten Geländewagen, auf den eilig zusammengeschweißte Stahlplatten als Panzerung montiert wurden. Darin rollten Biafras Soldaten mehr an die Front, als dass sie fuhren – kaum zu glauben, wenn man einen der „Teufel“ sieht, die seit Jahrzehnten im meterhohen Gras vor Ojukwus Bunker vor sich hin rosten.
An der Front wartete Nigerias Armee mit Panzerfäusten und Kanonen. Davon konnten Biafras Soldaten, die zunächst nur mit leichten Gewehren ausgerüstet waren, nur träumen. „Doch dann haben die Ingenieure eigene Landminen entwickelt, die mit Sprengstoff aus Maniok gefüllt waren“, berichtet Freeman, während er eine der bröckelnden Biafraflaggen auf dem Panzerwagen poliert: eine halbe gelbe Sonne auf rot-schwarz-grün gestreiftem Untergrund. „Danach kamen biafranische Raketenwerfer, zusammengehämmert aus abgesägten Haushaltsrohren. Wegen der nigerianischen Blockade gab es keinen anderen Weg, als selber Waffen zu machen.“ Die Idee hinter dem Museum war wohl, die Überlegenheit der nigerianischen Armee zu demonstrieren – es sollte ein Arsenal der Kriegsverlierer sein. Doch vor allem zeigt es den Erfindungsreichtum der biafranischen Armee. Es wurde improvisiert, der Rest wurde geklaut, etwa ein französischer Panzer, den Biafras Armee im September 1968 bei einem Gefecht in der Stadt Oguta eroberte – und der, weil so einzigartig, sofort einen Namen bekam: Oguta Boy. Während Nigerias Armee die Bevölkerung systematisch aushungerte – der vor Unterernährung aufgeblähte Leib eines Kindes war in Europa bald als „Biafrabauch“ berüchtigt –, sorgte sich Ojukwu vor allem um seine Luftwaffe. Der General hatte Piloten, aber keine Flugzeuge – für die drei Maschinen, die nach der Blockade in Umuahia verblieben waren, gab es keine Ersatzteile.
Zu Hilfe kam ihm ausgerechnet ein schwedischer Edelmann: Graf Carl Gustav von Rosen. Im Zweiten Weltkrieg hatte Rosen im Alleingang aus einem Sportflugzeug die Rote Armee beschossen. Im Frühjahr 1969 spendierte er Biafra eine Flugstaffel aus fünf zweisitzigen Sportmaschinen, die er selbst im Schutz der Nacht von Gabun nach Biafra flog. Die Überreste der „Biafra-Babys“, wie die Maschinen getauft wurden, haben die Museumsmacher in den Schatten eines nigerianischen Militärjets gestellt. Unter jedem der nicht einmal drei Meter breiten Flügel war Platz für jeweils sechs Raketen – mit ihren Flügen unterhalb nigerianischer Radars machten die „Babys“ Nigerias Armee monatelang das Leben schwer.
Doch der Krieg war da längst verloren. Leidtragende waren die Zivilisten: Auf eine Million wird die Zahl der Opfer geschätzt, die meisten verhungerten. „Ojukwu muss gewusst haben, dass Biafra verhungert“, sinniert Freeman, während er auf dem Deck eines im Garten ausgestellten nigerianischen Militärschiffs sitzt und auf die letzten paar hundert Quadratmeter Biafra hinabblickt. „Wahrscheinlich wollte er es nicht wahrhaben.“ Selbst als Ojukwu ins Ausland floh, ging die Propaganda weiter. Auf eine Friedensmission habe Ojukwu sich begeben, lautete eine der letzten Durchsagen der Stimme Biafras, bevor der Sender am 14. Januar 1970 eingenommen wurde. Einen Tag später verkündete Biafras Armeeführung die bedingungslose Kapitulation.
Heute lebt Ojukwu nicht weit entfernt in Enugu. „Vor ein paar Jahren wollte er Nigerias Präsident werden, aber hat nur ein paar Prozent bekommen“, lacht Freeman. Danach geriet der 73-Jährige in weitgehender Vergessenheit – wie die Überreste seines Staats, die in einem Museum in der nigerianischen Provinz vor sich hin träumen.
MARC ENGELHARDT, Jahrgang 1971, lebt in Nairobi, Kenia, und arbeitet von dort aus als freier Afrikakorrespondent