: Der Norden wird zur Fußballwüste
Der Regionalligist VfB Lübeck befindet sich im freien Fall. Mit über drei Millionen Euro Schulden droht Insolvenz. Die Hälfte der Spieler soll im Winter den Verein verlassen. Die Dritte Liga ist abgehakt. Schleswig-Holstein wird Fußball-Niemandsland.
Am 1. April 1919 gründen die Spieler des Lübecker Straßenfußballclubs Hansa den Ballsportverein Vorwärts 1919 Lübeck, der als Arbeiterclub 1933 von den Nazis verboten wird. Nach dem Ende des Dritten Reichs wird der Verein wieder gegründet und mit dem Lübecker Polizei-Sportverein der Hansestadt zum VfB Lübeck fusioniert. In den folgenden Jahren spielt der Club zumeist in der Oberliga, der höchsten regional unterteilten Spielklasse. Nach der Bundesliga-Gründung 1963 findet sich Lübeck in der Regionalliga-Nord, der zweithöchsten Spielklasse, wieder. Noch bis vor drei Jahren gehörte der VfB zur Norddeutschen Fußball-Spitze, spielte von 1995 bis 1997 und 2002 bis 2004 in der Zweiten Bundesliga. Heimstätte der Lübecker ist das Stadion an der Lohmühle, das 17.869 Zuschauern Platz bietet. Mac
VON MARCO CARINI
Die geplante Weihnachtsfeier wurde abgesagt, die letzte Trainingseinheit des Jahres ersatzlos gestrichen. Nach der 2 : 3-Niederlage bei den Amateuren von Werder Bremen – der sechsten in Folge – zerstreuten sich Trainer und Spieler des Regionalligisten VfB Lübeck in alle Winde. Ein ungeordneter Abgang, der einer kollektiven Flucht gleichkam.
Der Traditionsverein von der Lohmühle steht vor dem Absturz. Im Sommer mit dem Ziel gestartet, sich zumindest für die neue, eingleisige Dritte Liga zu qualifizieren, redet heute in Lübeck niemand mehr von einer Zukunft im Profifußball. Bedingt durch eine riskante Finanzplanung samt sportlichem Niedergang gilt es nur noch, eine drohende Insolvenz abzuwenden. Drei Millionen Euro Verbindlichkeiten drücken den Traditionsverein heute. Bis zum Sommer werden es vier Millionen sein, wenn der marode Club nicht das Steuer rumreißt.
Nach dem überraschenden Regionalliga-Abstieg von Holstein Kiel im vergangenen Sommer droht Schleswig-Holstein ohne einen einzigen Club in den drei Profi-Ligen zum Fußball-Niemandsland zu werden. Um den freien Fall noch zu stoppen, will Club-Geschäftsführer Jürgen Springer jetzt die Reißleine ziehen. In den kommenden Tagen sollen die Verträge mit der halben Mannschaft aufgelöst werden, um so bis zum Saisonende rund 330.000 Euro Gehälter einzusparen. Dem Vernehmen nach sollen auch Leistungsträger wie Daniel Cartus, Tobias Schweinsteiger, Benjamin Baltes oder Dustin Heun den Club noch in der Winterpause verlassen.
Da Springer dem Präsidium und dem Wirtschaftsrat „dringend rät“, aus Kostengründen die Lizenz für die Dritte Liga gar nicht erst zu beantragen, gibt es keine sportlichen Ziele mehr für das Team. Die Regionalliga-Rückrunde wird damit zur Abschiedstournee – ein Schaulaufen ohne sportlichen Wert.
Der VfB Lübeck ist das erste Opfer der eingleisigen Dritten Liga, obwohl es diese noch gar nicht gibt. Um sich sicher für diese Spielklasse zu qualifizieren, holte der VfB Lübeck im Sommer nicht weniger als 15 neue Spieler und blähte seinen Spielerkader auf 29 Balltreter auf. Es galt für den Tabellenneunten der vergangenen Spielzeit, zumindest wieder unter die ersten zehn zu kommen.
Doch als der sportliche Erfolg des zusammengewürfelten Teams ausblieb, entließ der Club Mitte Oktober – damals auf Rang 14 – den einstigen Erfolgscoach Uwe Erkenbrecher. Sechs Niederlagen in Folge unter Nachfolger Uwe Fuchs führten den VfB in die Tiefen des Tabellenkellers. Als Vorletzter trennen die Mannschaft auf Tabellenplatz 18 satte 13 Punkte von dem einst angestrebten Quali-Platz 10.
Zwar wurde das Ausmaß der Krise erst auf der Jahreshauptversammlung des Vereins in der vergangenen Woche öffentlich, die ersten Spatenstiche für das Begräbnis, das dem Traditionsclub jetzt bevorsteht, wurden jedoch schon weit früher getätigt. 15 Jahre lang – bis 2005 – pumpte der ehemalige Wirtschaftsrat Günter „Molle“ Schütt Millionen in den Club, um ihn dauerhaft im Profifußball zu etablieren. Noch Anfang 2004 schien der Verein vor einer rosigen Zukunft zu stehen: Die Kicker aus der Marzipanstadt standen im Halbfinale des DFB-Pokals und im ersten Tabellendrittel der Zweiten Liga. Doch das sportliche Zwischenhoch verdeckte nur, dass der Patriarch Schütt es verpasste, dem Club wirtschaftlich tragfähige Profi-Strukturen zu schneidern.
Nach dem Zweitliga-Abstieg im Sommer 2004 und Schütts Abgang im Jahr danach nahmen die Vereinsverantwortlichen immer neue Schulden auf, um den Club nach einem erhofften Wiederaufstieg in der Zweiten Bundesliga zu sanieren. Zudem wurde Geld in eine neue Haupttribüne gepumpt, die den Lübeckern in Zukunft höhere Zuschauereinnahmen bescheren sollten. Doch angesichts der sportlichen Talfahrt sank der Besucherschnitt in dieser Saison von 6.500 auf zuletzt knapp 4.000 – neue Finanzlöcher taten sich auf. „Wir sind kläglich gescheitert“, räumt Jürgen Springer heute ein.
Wie der VfB zumindest für den Spielbetieb der Vierten Liga fit gemacht werden kann, steht in den Sternen. Die großen Wirtschaftsunternehmen der Region, – die Schwartauer Marmeladenmacher, Niederegger und die Drägerwerke – ließen bereits wissen, sie stünden als Sponsoren nicht zur Verfügung. Lübecks Bürgermeister Bernd Saxe (SPD) schloss jede Finanzspritze aus dem desolaten Etat der Hansestadt kategorisch aus und schlug stattdessen vor, mit einer VfB-Aktie Geld von den Fans zu erbetteln.
Eine Idee, die Springer „nicht kommentieren“ will. Der Geschäftsführer, der das sinkende Schiff im Sommer verlassen wird, geht davon aus, dass nächste Woche die Eckdaten eines Sparetats für die Vierte Liga vorliegen könnten. Die Gefahr, dass der Club auch für diese Spielklasse keine Lizenz erhält, könne er aber, so Jürgen Springer, „nicht erkennen“.