Die richtige Distanz zwischen Kamera und Subjekt

KINO Gianfranco Rosi erzählt von den peripheren Stadtlandschaften rund um Rom, vom Wechsel der Jahreszeiten, von seinen Protagonisten, die einander nie begegnen: der Dokumentarfilm „Sacro GRA – Das andere Rom“

Der Film tritt ihnen dabei nie zu nahe, behält immer eine gewisse Distanz

Es gibt das berühmte Rom im Zentrum, und es gibt das Rom der Peripherie, dasjenige, das am 70 Kilometer langen Autobahnring GRA liegt, der die Stadt umkreist. Drei Jahre lang fuhr der Regisseur Gianfranco Rosi mit einem Minivan über den „Grande Raccordo Anulare“ und suchte nach Menschen, die an dem Ring leben und arbeiten. Sein Dokumentarfilm „Sacro GRA – Das andere Rom“, der 2013 den Goldenen Löwen in Venedig gewann, ist ein edler, präzise komponierter Film mit sehr schönen Bildern, eleganten Rhythmuswechseln, ausdrucksstarken tollen Protagonisten. Rosi zeigt sie beim Gespräch, in Pausen, bei ihrer Arbeit, ohne selber in Erscheinung zu treten.

Es gibt den Biologen Francesco, einen Mann Ende fünfzig, der einen endlosen Kampf gegen die Käfer führt, die die Palmenhaine bedrohen, den Prinzen Filipo, einen vielleicht 60-Jährigen, der meist wie weiland Harald Juhnke an einem erloschenen Zigarrenstumpen im Mund saugt und in seinem Anwesen posiert, das er für Fotoshootings vermietet. Außerdem tauchen zwei ältere Prostituierte auf, die auf Kunden warten, und Frauen in einer Tabledancebar, den Aalfischer Cesare sieht man, wie er ganz still in seinem kleinen Boot auf dem Tiber sitzt oder wie er sich mit seiner Frau am Tisch unterhält. Dann gibt es noch einen Rettungssanitäter bei der Arbeit und den verarmten Adeligen Paolo, der mit seiner Tochter in einer 1-Zimmer-Hochhauswohnung lebt.

In mehreren Durchgängen erzählt der Film von der Ringstraße, den peripheren Stadtlandschaften, vom Wechsel der Jahreszeiten, von seinen Protagonisten, die einander nie begegnen. Er tritt ihnen dabei nie zu nahe, behält immer eine gewisse Distanz; Paolo und seine Tochter beobachtet er schräg von außen, durchs Fenster; dem Prinzen Filipo überlässt er es, sich selbst zu inszenieren; der Biologe erklärt seine Arbeit, in der er aufzugehen scheint, und die zwei Table-Tänzerinnen hocken in Arbeitspausen rauchend auf dem Boden.

„Es dauerte Monate, die richtige Distanz zwischen Subjekt und Kamera auszuloten, herauszufinden, aus welchem Winkel man filmt, wie die Einstellung sein muss. Wenn ich dann endlich mit dem Drehen beginne, lösen sich alle Zweifel in Luft auf. In diesem Moment gibt es nur mich und die Wirklichkeit, selbst die Kamera scheint in meinen Händen zu verschwinden“, sagt Gianfranco Rosi. Es sind eigenwillige, besondere Menschen, von denen er berichtet, die aber gleichzeitig auch auf die anderen verweisen, die etwa in dem gegenüberliegenden Haus wohnen, in dem nie jemand zu sehen ist, wie der alte Vater zu seiner Tochter sagt.

DETLEF KUHLBRODT

■ „Sacro GRA – Das andere Rom“. Regie: Gianfranco Rosi. Dokumentarfilm, Italien 2013, 93 Min.