Nur die Spitze des Übergriff-Eisbergs

Ein Fausthieb ins Gesicht, ein Tonfa-Schlag, dem ein Ohr zum Opfer fiel: Die Anti-Repressions-Demo in Hamburg bekommt ein juristisches Nachspiel. Strafanträge wegen versuchten Totschlags und Körperverletzung im Amt gegen Berliner Polizisten

Der Kampfstock Tonfa stammt aus dem ostasiatischen Raum und wird bei der Hamburger Polizei seit Mitte der 90er Jahre von Spezialeinheiten eingesetzt. Die deutsche Version besteht entweder aus Stahl mit einem Hartkunststoffmantel oder aus verstärktem Polyester. Das Stockende ragt an beiden Enden über den Unterarm hinaus, der Tonfa wird so gerne für Schläge nach vorne und hinten genutzt. Ein Treffer in Rippen oder Bauch hat Brüche oder schwere Verletzungen zur Folge. Gezielt gegen den Kopf darf der Knüppel nicht eingesetzt werden.  KVA/FOTO: WAP

VON KAI VON APPEN

Die polizeilichen Übergriffe auf Teilnehmer der Demonstration gegen staatliche Repression und den Paragrafen 129 a in Hamburg werden für einige Berliner Beamte ein juristisches Nachspiel haben. Der Hamburger Rechtsanwalt Marc Meyer hat gegen Angehörige einer Berliner Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) Strafantrag bei der Staatsanwaltschaft gestellt: einmal wegen versuchten Totschlags, in einem anderen Fall wegen Körperverletzung in Amt.

Jacob Papst (Name geändert) aus Hannover, Teilnehmer des Protestmarsches am vergangenen Sonnabend, ahnte nichts Böses: Nach den diversen Stopps befand sich der Demonstrationszug zum fraglichen Zeitpunkt gerade auf der Höhe des Hallenbads im Stadtteil St. Pauli. „Es war eine total ruhige Situation“, erinnert sich der 36-Jährige, „da war nichts.“ Dann seien sechs bis acht Polizisten in „hellgrünen Uniformen“ und in „lockerer Formation“ auf ihn zu gekommen und ein Beamter habe plötzlich mit dem Kampfstock Tonfa auf ihn eingeschlagen. Papst spricht von einem „gezielten Schlag gegen den Kopf“. Er habe sich reflexhaft noch ein wenig wegdrehen können und sei daher am Ohr getroffen worden. Die prügelnden Polizisten seien dann weiter gezogen.

Ihm sein zunächst gar nicht klar gewesen, „wie schlimm das war“, sagt Papst. Dass ihn die Attacke sein linkes Ohr gekostet habe, bemerkte er erst dadurch, dass „Leute und Sanitäter begannen, in der Umgebung nach dem Ohr zu suchen“. Die Prellungen vom Schlag auf den Kopfes seien schmerzhafter gewesen, als das Abtrennen des Ohrs, bei dem es sich ja um Knorpelgewebe handele. Erst langsam sei ihm und den Helfern aufgegangen, dass das Ohr gerade noch an zwei Millimetern „körpereigener Substanz“ hing.

In einer Notoperation wurde das Ohr mit 50 Stichen wieder angenäht. Die Ärzte sind zuversichtlich, dass es wieder anwächst. „Ich hatte unverschämtes Glück, dass nur das Ohr getroffen worden ist und nicht der Gehörgang“, sagt Papst.

Weil ein direkter Tonfa-Treffer auf den Schädel auch tödlich sein könne, hält Papst Anwalt Marc Meyer den Strafantrag wegen versuchten Totschlags für nicht überzogen. Wer mit einem solchen Gerät „gegen den Kopf schlägt, nimmt zumindest eine Tötung billigend in Kauf“, sagt Meyer. Er hält es juristisch sogar für vertretbar gewesen, einen Mordversuch zu unterstellen: Mordmerkmale wie „niedere Beweggründe“ seien durchaus vorhanden, sagt der Anwalt. In den Polizei-Vorschriften zur Benutzung des Kampfstocks ist der Einsatz gegen den Kopf ausdrücklich untersagt und allenfalls zur Notwehr in lebensbedrohlicher Situation gestattet. Seinem Mandanten werde weder strafrechtlich etwas vorgeworfen noch ordnungswidriges Verhalten unterstellt, sagt Meyer: „Er hat da einfach nur gestanden.“

Am falschen Ort zur falschen Zeit war bei der Demo in Hamburg offenbar auch Sabine F.: Sie soll von einem Polizisten einer anderen Berliner Einheit geschlagen worden sein. Als sie hinter sich im Demonstrationszug Unruhe gespürt habe, sagt die 30-Jährige, habe sie sich umgedreht und „einen Faustschlag mitten ins Gesicht“ bekommen. Vermutlich habe sie zu nahe bei einer Person gestanden, die wegen Vermummung aus dem Protestzug herausgeholt werden sollte. Dann hätten die Polizisten ihr die Hände umgedreht, „obwohl ich keinen Widerstand geleistet habe“, sagt Sabine F. Mit blutender Nase habe sie danach fast eine Stunde auf den Abtransport ins Krankenhaus warten müssen: Der Rettungswagen habe nicht ohne Begleitung eines Polizisten abfahren dürfen. „Das war reine Schikane“, sagt F.

Anwalt Meyer geht davon aus, dass die beiden Fälle nur „die Spitze des Eisberges sind“ sind und sogar vom Einsatzkonzept der Polizei einkalkuliert waren. „Es galt Überreaktionen zu provozieren“, sagt Meyer, „um eine spätere Auflösung zu rechtfertigen“. Davon geht auch der Demo-Anmelder Andreas Blechschmidt aus. Hatte die Hamburger Polizeiführung noch bei der Demonstration gegen den Asem-Gipfel im vergangenen Juni keine auswärtigen Polizeikräfte direkt am Protestmarsch eingesetzt, seien diesmal bewusst BFE-Einheiten aus Berlin, Bremen und Schleswig-Holstein dorthin geschickt worden, „um diese mal ein bischen von der Kette zu lassen“, sagt Blechschmidt.

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