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Archiv-Artikel

„Ich bin in Bewegung, ich tanze“

LITERATUR Édouard Louis ist Frankreichs neuer Vorzeigeromancier. Sein erstes Buch ist ein Beststeller, er erzählt von einem schwulen Jungen wie ihm, der vor seiner Familie und Gewalt flieht – aus der Provinz nach Paris. Ein Gespräch über Hass, Hingabe und Milieus

Édouard Louis

■ Der Mensch: Louis, eigentlich Eddy Bellegueule, 22, ist Schriftsteller. Er wurde in einem Dorf im Norden Frankreichs, in der Picardie, geboren und wuchs in schwierigen, ärmlichen Verhältnissen auf. Seine Homosexualität erschwerte ihm Kindheit und Jugend; Diskriminierung, Mobbing und Gewalt brachten ihn dazu, zunächst nach Amiens und später nach Paris zu ziehen. Hier studiert Louis Soziologie an der École normale supérieure, vor allem setzt er sich mit dem Werk des Soziologen Pierre Bourdieu auseinander, über den er ein Buch geschrieben hat.

■ Das Buch: Louis’ Debütroman „Das Ende von Eddy“ ist ein Bestseller, bislang wurde es rund 250.000-mal verkauft. Das Buch ist autobiografisch, es handelt von einem Jugendlichen in der französischen Provinz, der aufgrund seiner Homosexualität Ausgrenzung und Gewalt erfährt. Eddys Anpassungsversuche scheitern, weshalb er sich gezwungen sieht, in die Stadt zu ziehen. Er flieht nach Paris.

■ Aus dem Französischen wurde der Roman von Hinrich Schmidt-Henkel unübertrefflich ins Deutsche übersetzt.

GESPRÄCH STEFAN HOCHGESAND FOTO AMÉLIE LOSIER

Der „Kleine Tearoom“ eines Hotels in Berlin: Stuck, Lilien in der Vase. Sie kommen gerade erst aus Frankfurt, sagt die Lektorin, morgen gehe es weiter nach Köln, für Lesungen – Édouard Louis könnte etwas müde sein. 22 ist er und Frankreichs neuer Literaturstar. Sein autobiografischer Debütroman „Das Ende von Eddy“ erscheint in 18 Sprachen. Und er: Sehr wach. Louis sprudelt, sobald er erzählt.

taz: 22 Jahre alt, 250.000 verkaufte Bücher. Das können Sie doch selbst nicht glauben, oder?

Édouard Louis: Alle hat das überrascht, glaub ich. Mein Verleger meinte anfangs, das Buch wird es schwer haben. Meine Freunde sagten: „Dein Buch ist so stark, es verkauft sich bestimmt 5.000 Mal.“ Ich meinte: „Ihr spinnt doch. 5.000, das wäre enorm!“ Jetzt ist es etwas mehr geworden.

Verändert Sie Ihr Erfolg?

Nicht wirklich. Ich reise viel, also bin ich öfter müde. Aber das stimuliert mich wiederum zum Schreiben. Auch weil die anderen ja jetzt sagen: „Du bist ein Schriftsteller.“ Es ist, als ob ich diesem Anspruch gerecht werden müsste. Und, na ja, ich bin jetzt viel glücklicher.

Warum?

Ich habe das Buch von der ersten Zeile an auch als politisches Buch verstanden. Es sollte die Leute berühren und verändern. Ein Student hat mir nach einer Lesung gesagt: „Vor dem Buch war ich homophob, aber jetzt bin ich es nicht mehr.“

Wie leben Sie nun so in Paris?

Ich gehe nicht viel zur Uni, das gefällt mir nicht besonders. Ich wache spät auf, zwischen 11 und 12. Mittags fange ich mit dem Schreiben an, etwa bis 20 Uhr. Danach ist die Zeit meinen Freunden gewidmet. Immer. Ich mag diese heilige Vorstellung mancher Schriftsteller nicht, ihr ganzes Leben dem Werk hinzugeben. Ich glaube, das geht auch anders. Aber Künstler mögen das ja, sich zu unterwerfen. Ich weiß nicht, wieso.

Das romantische Ideal vom Genie, meinen Sie?

Ja. Nietzsche sagte über Flaubert, der den ganzen Tag schrieb, er sei ein Blei-Arsch. Ich bin in Bewegung, ich tanze. Ich teile mehr mit Nietzsche als mit Flaubert.

Sie haben immerhin 16 Mal angefangen, Ihren Roman zu schreiben.

Ich erzähle sehr Intimes, sehr Persönliches. Es war hart, darüber zu schreiben, wenn man im Hinterkopf hat, dass es jemand lesen wird. Ich musste also gegen mich selbst anschreiben, um diese Angst zu überwinden.

Wann dachten Sie, es könnte zu intim werden?

Als ich etwa die Sexszene mit meinem Cousin schilderte. Das geschah, als ich zehn war. Oder die Angst, die ich vor den Jungs auf der Schule hatte, die mich Schwuchtel nannten. Es ist zu brutal, zu sagen: Ich werde dominiert. Es gibt einen Diskurs dagegen, sich als Opfer zu erkennen zu geben. Die Leute sagen: Hör auf, einen auf Opfer zu machen.

Wer sagt so etwas?

Ich fürchte, das ist ein Gemeinplatz, man hört es ständig. Kürzlich habe ich Imre Kertesz gelesen, den ungarischen Nobelpreisträger, den ich bewundere: Selbst er schreibt, man solle sich nicht als Opfer beschreiben.

Wer hat Sie gestärkt?

Für mich begann es mit der Lektüre von Didier Eribon, der eine Foucault-Biografie geschrieben hat, die es bei Suhrkamp auch auf Deutsch gibt. Er hat aber auch ein Buch über eine Kindheit geschrieben und die Flucht aus einem einfachen Milieu, um ein Intellektueller zu werden, in Paris Bücher zu schreiben und Professor in Berkeley zu werden. Das Buch versetzte mich in Schock. Erst dachte ich: Das ist genau mein Leben! Ich möchte auch schreiben! Nachdem ich etwas darüber nachdachte, merkte ich, dass das gar nicht mein Leben war: Ich schrieb nicht, ich bin nicht nach Paris gegangen. Ich hatte nicht mal Lust aufs Schreiben. Im direkten Vergleich war ich ein Barbar.

Und dann?

Dann dachte ich: Vielleicht kann man sich mit der Literatur in ein anderes Leben fantasieren. Ich wollte meine Kindheit erzählen, die Gewalt, die ich erfahren habe. Als „Eddy“ herauskam, bekam ich Tausende Briefe von Lesern, in denen stand: Das Buch beschreibt mein Leben.

Sie sind in einem Dorf im Norden Frankreichs, in der Picardie, aufgewachsen. Was raten Sie jungen Homo- und Transsexuellen, die, wie Sie, Ausgrenzung und Gewalt in der Provinz erfahren müssen?

Es ist schwer, da einen Ratschlag zu geben. Wenn ich müsste, würde ich sagen: weggehen, fliehen.

Das klingt aber sehr pessimistisch. Das klingt fatalistisch.

Nein, denn Flucht beinhaltet die Erfindung von etwas Neuem. Eddy entflieht seinem Milieu, das ihn ablehnt, entflieht seiner Familie, die ihn hasst. Ich habe daraus etwas Literarisches machen wollen, aber Ähnliches sieht man auch in der Politik. Edward Snowden, Julian Assange und andere sagen: Wo ich herkomme, ist die Situation so verfahren, dass ich wegmuss. Die Flucht als revolutionärer Akt des 21. Jahrhunderts. Früher wurde Flucht doch eher als ein Zeichen der Schwäche gedeutet. Man sagte: Es ist einfach, wegzulaufen.

Wie war Ihre Flucht?

Als sich mir die Möglichkeit eröffnete, als Erster meiner Familie aufs Oberstufengymnasium zu gehen: Wenn man mich da vor die Wahl gestellt hätte, zu gehen oder im Dorf zu bleiben und der Männlichste von allen zu sein, ich hätte keine Sekunde gezögert und wäre geblieben. Die Flucht war für mich schmerzhaft. Ich kann mir denken, dass es viele gibt, die deshalb nicht fliehen.

Sie besuchen das Dorf Ihrer Kindheit nicht mehr. Fehlt Ihre Familie Ihnen manchmal?

Nicht sehr, nein. Dazu wäre es notwendig, dass ich mich ihr verbunden fühlte. Aber ein inniger Kontakt kam nie zustande. Manchmal sah ich meine Mutter, und sofort zog sich eine Mauer zwischen uns auf. Wenn ich zu reden begann, sagte sie: „Du redest wie die Bourgeoisie.“ Selbst wenn ich ganz einfache Klamotten und Sneakers trug, sagte sie: „Aha, du ziehst dich an wie ein Minister. Du machst das, um uns zu demütigen.“ Ich sagte dann: „Mama, ich zieh mich doch bloß ganz normal an.“ Wir konnten nur zehn Minuten zusammensitzen, und sie sagte Sachen wie: „Die Frauen sind doch alle Nutten!“ Ich sagte: „Aber Mama, du bist doch selbst eine Frau.“ Es gibt eine objektive Distanz zwischen uns. Selbst wenn meine Mutter mich liebt – und ich weiß nicht, ob ich sie liebe –, reicht der Wille zur Begegnung nicht aus.

Stimmt Sie das traurig?

Nein. Doch, manchmal, aber es fällt mir schwer, das zuzugeben. Wenn Sie so wollen, macht mich die Unmöglichkeit einer Beziehung zwischen meiner Mutter und mir weniger traurig, denn ich habe mir eine neue Familie geschaffen. Eine Familie aus Freunden, mit denen ich in Paris lebe. Die auf mich achtgeben und auf die ich achtgebe.

Wollen Sie Ihre Mutter lieben?

Ich glaube, man kann solidarisch sein auch ohne Liebe. Man kann mitleiden ohne Liebe. Auf eine solche Weise leide ich mit meiner Mutter. Nicht weil ich sie liebe, sondern weil ihre Lebensumstände schrecklich sind.

Schrecklich inwiefern?

Im Buch erzähle ich, dass wir öfter mal gar nichts zu essen hatten oder nur warme Milch aßen. Das empört mich. Ich habe das Buch in Empörung geschrieben, durch die Empörung, gegen diese Ungerechtigkeit, gegen die sehr starke Unterdrückung und Gewalt. Mit einem Studenten redete ich neulich über die Zustände in Gefängnissen. Er meinte: „Die sind doch gewalttätig, vielleicht würden sie dich als Schwuchtel beschimpfen.“ Ich erwiderte: „Man kann jemanden verteidigen, auch wenn man nicht jeden Tag mit ihm zu Abend essen will.“ So geht es mir mit meiner Mutter. Sie fehlt mir nicht, aber ich kämpfe trotzdem für sie.

Wie sind die Freunde, die Ihre neue Familie bilden?

Fast alle älter als ich. Für mich ist das sehr wichtig: dass ich mein Leben in neue Bahnen gelenkt habe. Etwas um mich herum aufbaue, Verbindungen. Viele Menschen brauchen Freundschaft als Lebensweise. Bizarr, dass Staaten das nicht anerkennen. Man kann keine „eingetragenen Freundschaften“ schließen.

Dafür bräuchte es ein Gesetz?

Ja, ich glaube, das wäre wichtig. Wenn Menschen erfahren, dass ich meine Familie nicht mehr sehe, finden sie das oft schrecklich. Ich entgegne dann: „Aber meine Freunde sind doch meine Familie.“ Das sei nicht das Gleiche, heißt es dann. Ein Gesetz könnte die Redeweise darüber verändern und aus der Unsichtbarkeit führen. Wenn ich morgen sterbe, hätte ich gerne, dass sich meine Freunde um meine Beerdigung kümmern dürfen, nicht zwangsläufig meine Eltern.

Wie haben Sie die Demonstrationen in Frankreich erlebt, gegen das Adoptionsrecht für schwule und lesbische Paare?

„Manchmal sah ich meine Mutter und sofort zog sich eine Mauer zwischen uns auf. Wenn ich zu reden begann, sagte sie: ,Du redest wie die Bourgeoisie.‘ Selbst wenn ich ganz einfache Klamotten und Sneakers trug, sagte sie: ,Aha, du ziehst dich an wie ein Minister. Du machst das, um uns zu demütigen‘“

Die Leute waren erstaunt: Woher kommt so viel Homophobie im Frankreich des 21. Jahrhunderts? Ich hingegen war erstaunt über dieses Erstaunen. Ich kannte diesen Hass nur zu gut. Und ich glaube, die Literatur kann ein Mittel sein, die Perspektive zu verschieben auf die Gewalt, die man normalerweise nicht im Blick hat. Ein Buch sollte dort Licht ausstrahlen, wo die Gesellschaft Schatten wirft.

Fürchten Sie die Gewalt in Ihrem Land?

Gewalt beginnt ja schon dabei, dass man einen Namen erhält, den man sich nicht selbst aussucht. Und dann wird man in Kategorien gesteckt: Schwuler, Jude, Araber. „Du bist eine Frau, bleib auf deinem Platz.“ Meine Mutter sagte: „Ich hab die Schule mit sechzehn geschmissen. Das war einfach nichts für mich.“ Aber tatsächlich wurde sie dazu gedrängt, weil sie ein Mädchen aus sehr armem Milieu war. Das war keine freie Entscheidung. Viele Menschen unterwerfen ihr Leben diesen Verdikten nicht mehr. Viele andere leider doch.

Wann haben Sie akzeptiert, dass Sie schwul sind?

Ich war achtzehn. Es war lang und schmerzhaft für mich, denn ich wusste eigentlich immer, dass ich schwul bin. Ein Hauptanliegen meines Buch war darum, zu sagen: Eddy ist genau wie die anderen. Eddy hatte, genau wie die anderen, Angst vor Ausländern, behandelte die Mädchen grob. Er beschimpfte einen anderen Jungen als schwul.

So waren auch Sie?

So war ich. In vielen Romanen über sozialen Aufstieg bekommt man den Eindruck, dass der Protagonist immer ganz anders war als die Menschen in seinem Umfeld. Schaut her, wie außergewöhnlich er doch ist! Dass er immer dagegen ankämpfte, um schließlich zu fliehen. Ich glaube nicht daran. Der Flüchtling ist vorher so wie die anderen. Wäre doch auch vermessen zu sagen: „Ich war immer klüger als meine Geschwister.“ Unerträglich, so etwas könnte ich nie behaupten.

Sie sagen, die Konstruktion ist das Wesensmerkmal des Romans. Wie haben Sie Ihren konstruiert?

Das hat gedauert. Anfangs schrieb ich einen kleinen chronologischen Bericht. Später entstand dieses Tableau der Welt von Eddy, seinen Eltern, seiner Schule. Ich habe das Buch auf den Punkt hin konstruiert, an dem Eddy flieht. Erst dann kam mir die Idee, die Sprache meiner Kindheit aufzunehmen.

War das schwierig?

Das Schwierigste im ganzen Schreibprozess: aus nichtliterarischem Material was Literarisches machen. Ich finde, dass eine solche Sprache sonst aus der Literatur ausgeschlossen wird. Als ob die Literatur sie ausschließen müsste, um Literatur zu sein. Aber die Gewalt, die ich zeigen wollte, ist eben auch eine Gewalt der Sprache. „Schwul“ ist nicht das Gleiche wie „Schwanzlutscher“. „Araber“ nicht das gleiche wie „Kamelficker“.

Gab es die Gefahr, die Menschen auf dem Dorf zu karikieren, gerade durch die Sprache?

Ich habe mich bemüht, die Figuren in ihrer Komplexität zu zeigen. Mein Vater etwa verhielt sich meist homophob. Aber als einmal ein Schwuler angegriffen wird, beschützt er ihn. Meine Mutter sagte einerseits, ich bereite ihr Schande durch meine feminine Art. Andererseits sagt sie später: „Wir sind stolz auf dich, weil du Erfolg hast.“ Das sind keine Karikaturen. Sowieso ist das, was man Karikatur nennt, oft bloß ein Effekt aus der Distanz heraus. Als ich zum ersten Mal nach Paris kam, ins Quartier Saint-Germain-des-Prés – als ich da die Spaziergänger im Jardin du Luxembourg sah, sagte ich mir: Das sind doch Karikaturen. Aber das sind einfach Menschen.

Wird es eine Fortsetzung geben, den zweiten Band Ihrer Jugend?

Den zweiten Roman beende ich zurzeit. Er ist auch autobiografisch, aber keine Fortsetzung. Diesmal geht es um Immigration, einen Text, der Wirkliches erzählt, finde ich eben interessant: Das ist mein Leben, unsere Welt. Die Literatur als Waffe der Wahrheit. Es gelingt mir gar nicht, Geschichten zu erfinden. Es gibt so vieles in der Wirklichkeit, worüber zu sprechen mir wichtig ist. Ich hätte fast das Gefühl, meine Zeit zu verschwenden, wenn ich Geschichten erfände.

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