SUCH NACH DEM ANDEREN: „TEXTE ZUR KUNST“, „POLAR“, „DIE WELT“
: Die Boheme in der Elternzeit

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ARAM LINTZEL

Zeitgleich landeten kürzlich zwei Zeitschriften in meinem Briefkasten. Beide handeln davon, wie wir leben wollen. In der aktuellen Ausgabe der Texte zur Kunst geht es um „Boheme“, während das Magazin Polar die „Politik der Lebensformen“ zum Thema hat.

Beide Publikationen fragen nach Ausstiegsszenarien in einer Welt, in der ein radikales „Außen“ unerreichbar zu sein scheint. Die derzeitige Konjunktur nostalgischer Erinnerungen etwa an Westberliner Subkulturen der achtziger Jahre dürfte tatsächlich entsprechenden Verlustgefühlen entspringen. Bei Texte zur Kunst interessiert man sich aber weniger für gute alte Zeiten als dafür, wie sich Künstler und andere zeitgenössische Individuen auf die veränderte Lage einstellen.

Die Redakteurinnen Caroline Busta und Hanna Magauer beobachten im Vorwort „konformistische Tendenzen“ und schreiben, dass „der Wunsch, der bürgerlichen Welt des Kapitalismus den Rücken zu kehren, durch Bemühungen ersetzt wurden, den Anschluss nicht zu verlieren“. Optimistischer ist man bei Polar und freut sich über „eine Renaissance der Suche nach alternativen Lebensformen (…) von der Share-Ökonomie über die Commons-Debatte bis hin zu einem neuen Genossenschaftsdenken“. Während die meisten Autoren in Texte zur Kunst „bohemistische Zonen“ und die Spielräume für abweichende Lebensentwürfe schwinden sehen, glaubt man bei Polar an Vergesellschaftungsformen, die Auswege aus der „totalen Verfügbarkeit“(Busta/Magauer) aufzeigen.

Was in beiden Heften nicht vorkommt, ist ein staatlich subventionierter Escape, der insbesondere Männern als temporäres Domizil des alternativen Lebens dient: die Elternzeit. In persönlichen Erfahrungsberichten wird sie gerne zu einer Heterotopie verklärt, die den berufstätigen Mann aus den Zwängen der karrieristischen Vernunft befreit. In seinem Beitrag „Warum wir endlich echte Väter werden müssen“ für Die Welt schrieb der Schriftsteller Leander Scholz über seine Elternzeit: „Mein ganzes bisheriges Leben schien auf einmal infrage gestellt zu sein, die Art, wie ich es geplant und eingeteilt hatte.“

Das Selbstverständliche – dass man sich um das eigene Kind kümmert – wird zur Revolution des Alltagslebens überhöht. Alles wird anders: „Für anderthalb Jahre habe ich in einem anderen Rhythmus gelebt. Ich habe mich anders bewegt, anders wahrgenommen und vielleicht sogar anders geatmet.“ Scholz leitet aus seiner „extremen Erfahrung“ gar gesellschaftliche Transformationen ab: „Unser soziales und politisches Leben wäre ein anderes, wenn mehr Menschen, Männer und Frauen, einen engeren Umgang mit Kindern hätten.“

Zugegeben, auch ich habe in meinen beiden Elternzeiten aus Langeweile dem Kinderwagenschieben manchmal eine höhere Bedeutung unterschoben. Schriftsteller Scholz begibt sich jedoch in performative Widersprüche, wenn er die Elternzeit als Austritt aus Verwertungszusammenhängen glorifiziert, sie zugleich als Distinktionsressource anzapft und publizistisch veredelt. Warum ist er nicht einfach Vater, warum muss er mit dem, was zahllose Frauen immer noch nebenbei tun, derart renommieren? Den ähnlichen Bericht einer Mutter hätte Die Welt wohl kaum abgedruckt.

Scholz behauptet, dass ihn das Kind aus Egoismen herauskatapultierte, tut dies aber in einem narzisstischen Ton, der den Nachwuchs zum Medium für die eigene Sinnsuche macht. Ganz davon abgesehen, dass unerwähnt bleibt, dass die Elternzeit ein Geschenk an die privilegierte Mittelschicht ist. Vor allem Männer mit entsprechendem Gehalt scheinen sie als Unterbrechung des Optimierungskontinuums zu begrüßen. Dass sich mehr Väter um ihre Kinder kümmern, ist natürlich gut und es finden sich bei Scholz auch schöne Stellen über die Elternliebe. Doch muss das Vatersein deswegen zum „ganz Anderen“ aufgeblasen werden, das gleichsam als messianisches Ereignis über den endlich wehrlosen Mann hereinbricht?

Während es den Zivildienst als Phase der Selbstfindung nicht mehr gibt und Studierende durch die Semester hetzen müssen, scheint die Elternzeit inzwischen eine nachgereichte Kompensation zu sein – ein „Außen“ auf Zeit, mit dem mittelalte Männer sich in der „Wildnis des häuslichen Lebens“ (Gilbert K. Chesterton) ausprobieren dürfen. Ursula von der Leyen sei Dank, sie hat ein Ersatzrefugium auf den Ruinen alternativer Lebensformen gebaut. Und die Väter können sich dort als Helden des Alltags aufspielen.

■ Der Autor ist Referent für Kulturpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen und Publizist