: Familienstreit bei den Demokraten
VIELFALT Jesús García ist links und Latino und könnte der erste Bürgermeister von Chicago werden, der aus Mexiko stammt. Heute tritt er zur Stichwahl gegen das Establishment an und seine Unterstützer hoffen bereits, dass mit ihm die Partei nach links schwenkt
AUS CHICAGO DOROTHEA HAHN
Zahlenmäßig hatte Jesús García nie eine Chance. Ihm fehlen die Millionen-Dollar-Spenden und die politische Unterstützung aus dem Weißen Haus, vom Apparat der Demokratischen Partei ebenso wie von den lokalen Medien, der Handelskammer und den Unternehmen in Chicago. Jesús García, genannt Chuy, stammt aus der Minderheit der Latinos, die erst anfängt, sich in der Politik der Stadt zu etablieren. Und nicht einmal er selbst wusste bis zum vergangenen Herbst, dass er Bürgermeisterkandidat der drittgrößten Stadt der USA werden würde.
Doch trotz der Widrigkeiten hat García, 58, dem gegenwärtigen Bürgermeister Rahm Emanuel, 55, eine empfindliche Niederlage beigebracht. Anstatt der von allen erwarteten Wiederwahl am 24. Februar im ersten Durchgang, muss sich Emanuel am heutigen Dienstag der ersten Stichwahl für das Bürgermeisteramt in der Geschichte von Chicago stellen. Da beide Kandidaten Mitglieder der Demokratischen Partei sind, kann die Wahl des Bürgermeisters auch eine Richtungsentscheidung für die ganze Partei sein.
Das zumindest hoffen die Tausenden von García-Unterstützern aus einer linken Graswurzelbewegung. Ihnen geht es um mehr als um die nächsten vier Jahre im fünften Stock des Rathauses. „Wir wollen die Demokratische Partei zurückerobern“, erklärt Kristi Sanford von der „Peoples Lobby“, die Jesús „Chuy“ García im Wahlkampf unterstützen. „Wir wollen die Demokraten zurück von den Unternehmerfreunden in der Partei, die sich nicht von Republikanern unterscheiden.“ Die 41-Jährige hat weitere utopisch klingende Ziele: „Wir brauchen öffentlich finanzierte Wahlen, die Politiker unabhängig von Unternehmerinteressen machen“, sagt Sanford. Sie hofft, dass der Familienstreit unter Demokraten in Chicago auch ein Signal für die Präsidentschaftswahlen wird: „Je nachdem, wie Chuy abschneidet, muss Hillary Clinton nach links korrigieren.“
„Money against Many – Geld gegen viele“, sagt Martin Castro, wenn er erklärt, worum es in Chicago geht. Der Anwalt steht vor der Kirche Virgen de Guadalupe in der South Side im Schneeregen und verteilt Flugblätter. Der Stadtteil galt früher als das zweite Harlem der USA, bis in den 1980er Jahren die südamerikanischen Einwanderer zu den Afroamerikanern zogen. Auf Englisch und auf Spanisch steht auf den Flugblättern zu lesen, dass der Kandidat „Chuy“ Geld in Sozialwohnungen investieren und 1.000 zusätzliche Polizisten anstellen will. Beides kontrastiert mit der Politik von Bürgermeister Emanuel. Der hat in seiner ablaufenden Amtszeit in Prestigeobjekte in der Innenstadt investiert. Unter anderem vergab er 55 Millionen Dollar für den Bau eines neuen Hotels an die Marriott-Kette. Zugleich strich er 400 Stellen von Polizisten.
García lehnt Subventionen für Marriott ab. „Pay to Play“ nennt er die Zusammenarbeit, bei der Unternehmen den Kandidaten Spenden geben, um später öffentliche Aufträge zurückzubekommen. Umstritten ist hingegen bei Garcías Anhängern der Vorschlag, mehr Polizisten einzustellen. Jan Rodolfo von der Gewerkschaft der Krankenschwestern – Nurses United – spielt in der Allianz hinter García eine zentrale Rolle, doch ihrem Kandidaten hat sie gesagt, dass es klüger wäre, über bessere Bildung und Chancengleichheit zu sprechen, statt über mehr Polizei.
In der Kirche Virgen de Guadalupe warnt der Pfarrer vor den Flugblättern. Doch seine Gläubigen lassen sich davon nicht beeindrucken. Sie sprechen von „Chuy“, als wäre er ein langjähriger persönlicher Freund. Der Kandidat ist im mexikanischen Durango geboren und kam als Kind eines Landarbeiters in die USA. Er trägt einen Schnäuzer wie viele der Gottesdienstbesucher in der Kirche Virgen de Guadalupe. Buttons mit dem Schnäuzer sind ein Logo der Kampagne geworden. Sein Spitzname „Chuy“ ist in Mexiko eine Abkürzung für Jesús.
Die South Side ist eines der ärmsten Gebiete von Chicago. Mit der höchsten Mordrate der Stadt. Die Latino Community in Chicago wächst schnell und stellt bereits mehr als 30 Prozent der Bevölkerung der Stadt. Aber einen Bürgermeister aus ihrem Kreis hatte sie noch nie. „Hat Chuy eine Chance?“ fragt eine Frau den Flugblattverteiler: „Natürlich“, antwortet Martin Castro: „wir müssen sie nur nutzen.“
Die „Chuy“-Kampagne hat das „Wir“ zurück in die Kommunalpolitik von Chicago gebracht. García hat Rat bei Grassroots-Gruppen geholt. Für den Fall seiner Wahl verspricht er Bürgerbeteiligung und regelmäßige Treffen in allen Stadtteilen. Er weiß, wovon er redet. García ist seit 40 Jahren in der Politik in Chicago und im Bundesstaat Illinois aktiv, als Community Manager in Bürgerinitiativen und als gewählter Politiker.
García beschreibt sich als „links, progressiv, unabhängig und ökologisch“. Im Gespräch sagt er, dass er der Politik von Chicago eine andere Richtung geben will. „Wir wollen unsere Steuergelder vorrangig in den Stadtteilen einsetzen und nicht länger zugunsten der Millionäre in der Innenstadt investieren.“
Bürgermeister Emanuel hat in Chicago den Ruf eines „Bully“. Eltern nennen ihn so, weil er 50 Schulen geschlossen hat. Krankenschwestern, weil er die Hälfte der Behandlungszentren für psychisch Kranke zugemacht hat. Beschäftigte der städtischen S-Bahn, weil er die Fahrkartenverwaltung privatisiert hat. Emanuel begründet das alles damit, dass die Stadt sparen müsse und er das Beste für sie tue. Doch die Bürger fühlen sich überrannt und beklagen, dass er weder diskutiert noch informiert.
Bevor Emanuel 2011 Bürgermeister seiner Geburtsstadt Chicago wurde, hat er zwei US-Präsidenten – Bill Clinton und Barack Obama – gedient. War Abgeordneter im US-Kongress. Und hat im Investmentbanking gearbeitet. Den „Bully“-Vorwurf hat er so lange ignoriert, bis er im ersten Wahlgang im Februar durchfiel. Danach änderte er seinen Ton. In einem Werbevideo blickt er nun wie ein gescholtener Bub und erklärt kleinlaut: „Man sagt, unsere größten Stärken sind zugleich unsere größten Schwächen.“ Als seine Stärke versteht er „Führungsfähigkeit“. Am Rest will er arbeiten.
Für seine Wiederwahl hat Emanuel 23 Millionen Dollar gesammelt. Allein für Werbevideos hat er mehr als 7 Millionen ausgegeben. Das ist weit mehr, als der komplette Wahlkampfetat seines Herausforderers. Große Teile von Emanuels Wahlkampf-Geld stammen von Unternehmen in und außerhalb Chicagos. Darunter politisch weit rechts stehende. Einer seiner wichtigsten Spender, Kenneth Griffin, Chef des Hedgefonds „Citadel“, bezeichnet sich als „Reagan-Republican“, finanziert außerhalb von Chicago republikanische Politiker und tritt für „weniger Staat“ ein. Er spendete Emanuels Kampagne mehr als eine Million Dollar. Von einem anderen Hedgefonds-Betreiber kassierte Bürgermeister Emanuel 1,5 Millionen Dollar. Die García-Kampagne verlangte vergeblich die Veröffentlichung der 1.500 E-Mails zwischen dem Spender und seinem Bürgermeister.
„Dies ist die abwechslungsreichste Bürgermeisterwahl der Geschichte Chicagos“, sagt ein Priester zur Eröffnung des Forum der schwarzen Bürgerrechtsorganisation NAACP in der West Side von Chicago. Er stellt Emanuel als „ersten jüdischen Bürgermeister“ und García als „ersten mexikanischen Kandidaten“ vor. Doch das Publikum interessiert sich nicht für andere Minderheiten, sondern für die eigene Lage: die geschlossenen Schulen, die knappen Arbeitsplätze, die überfällige Renovierung des Stadtteils. Die West Side von Chicago ist das „Ghetto“. Manche Straßen tragen noch die Narben der Rassenunruhen, die auf den Mord an Martin Luther King 1968 folgten. „Sie wollen gewählt werden“, murmelt Fon’adren La’tae, die im Publikum sitzt: „also müssen sie unsere Fragen beantworten.“
In den 1980er Jahren arbeitete der junge García als Ratsherr mit dem ersten schwarzen Bürgermeister von Chicago zusammen, Harold Washington. Einem sozialen Reformer, von dem heute wieder viele in der Stadt schwärmen. Damals waren Afroamerikaner die stärkste Minderheit in der Stadt. Weit vor den Latinos. Seither hat sich das Verhältnis umgekehrt. Manche Afroamerikaner fürchten die Konkurrenz. Auch deswegen zögern viele in der West Side bis zum letzten Moment, für wen sie bei den Bürgermeisterwahlen stimmen sollen. Das Votum ihrer Community wird heute darüber entscheiden, wer der künftige Bürgermeister von Chicago wird.
García verspricht, dass er „jemanden von der West Side“ in sein Team holen wird, dass er dafür sorgen wird, dass Geschäftspartner des Rathauses Angehörige aller Minderheiten, gemäß ihrem Anteil an der Bevölkerung der Stadt, beschäftigen und dass er in Renovierungen investiert.
Im Endspurt vor den Wahlen bietet García prominente Unterstützer auf: die Feministin Gloria Steinem, die demokratische Kongressabgeordnete Maxine Waters, den schwarzen Bürgerrechtler Jesse Jackson. Mit ihm geht der Katholik „Chuy“ am Ostersonntag in eine Baptistenkirche. Ein Versuch, Vorbehalte von Minderheiten untereinander auszuräumen.
Unterdessen ist Elliot Zashin in Rogers Park, einer Mittelschichtssiedlung im Nordwesten von Chicago im Endspurt. Der 74-jährige frühere Dozent für Politische Wissenschaften ist einer von 6.000 Freiwilligen, die ausgeschwärmt sind, um Wähler im persönlichen Gespräch von García zu überzeugen. Zashin hat nach vorherigen Hausbesuchen Zahlen zwischen 1 und 5 in seine Listen eingetragen. Sie geben an, wie wahrscheinlich es ist, dass jemand für García stimmt. Am letzten Tag der Kampagne wird er nur noch bei jenen klingeln, die früher Sympathie, aber keine Entschlossenheit für García geäußert haben.
Elliot Zashin wird bis sieben Uhr heute Abend, wenn die Wahllokale schließen, um jede Stimme ringen. Die Umfragen geben Emanuel einen zweistelligen Vorsprung vor García. Aber von Umfragen lässt Elliot Zashin sich nicht beeindrucken. Die lagen auch im ersten Wahlgang falsch. „Eine Stimme“, sagt er, „ist erst dann sicher, wenn sie abgegeben ist.“