Falscher Freund und Helfer

FERGUSON Bislang schafft die US-Polizei vor allem „Ordnung“ bei denen, die Grund haben, das System abzulehnen: bei Armen und Schwarzen

■ ist Journalist und lebt in den USA. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über die USA und ihre Angstindustrie. Seine TV-Doku „Honeckers letzte Spione“ lief 2014 mit Erfolg im Rundfunk Berlin Brandenburg.

Ferguson verschwindet allmählich aus den Schlagzeilen. Dabei wäre permanente Empörung angebracht angesichts der Alltäglichkeit, mit der die Polizei in den USA Menschen erschießt. Und angesichts des krass unfairen Umgangs mit Verdächtigten aufgrund von Hautfarbe und sozialem Status. Die tiefen gesellschaftlichen Gräben spiegeln sich massiv in der Polizeiarbeit wider.

In den USA erschießt die Polizei jedes Jahr Hunderte Menschen. Es gibt noch nicht einmal verlässliche Zahlen. Das FBI spricht von 461 „gerechtfertigten polizeilichen Tötungen“ im Jahr 2013. Killedbypolice.net sammelt Medienberichte über Schießereien (ohne Wertung und Schuldzuweisung): Im Jahr 2014 hätten Polizisten 1.100 Menschen getötet. Die Gruppe „Operation Ghettostorm“ zählt, dass 2012 wenigstens 313 Afroamerikaner von der Polizei und privaten Sicherheitsleuten erschossen worden seien.

Ein Anwalt ist unbezahlbar

Man spricht in den USA gern von Freiheit, und der Polizei gibt man sehr viel Raum. Laut Justizministerium sorgen in den USA 1,13 Millionen Polizisten und Mitarbeiter in 18.000 Polizeibehörden für Law & Order. (Die Mehrzahl sind örtliche Dienststellen mit einigen wenigen Uniformierten.) Die Polizei habe im Jahr 2013 11,3 Millionen Menschen festgenommen, informiert das FBI. Die allermeisten wegen nicht gewalttätiger Vergehen, wie Trunkenheit, Diebstahl, Drogen, Ruhestörung.

Ins polizeiliche Fadenkreuz geraten vor allem Leute mit wenig Geld. Beinahe 80 Prozent der rund 12 Millionen US-Amerikaner, die pro Jahr vor Gericht erscheinen, könnten sich keinen Anwalt leisten, erklärte der Gründer vom Rechtshilfeverband Gideon’s Promise, Jonathan Rapping. Häufig „gestehen“ Unschuldige, weil sie sich kein Gerichtsverfahren leisten könnten. Spricht man in den USA von „einkommensschwach“, sind oft Minoritäten gemeint. Nach Regierungsangaben ist die Armutsrate bei Afroamerikanern (27,2 Prozent) und bei Latinos (23,5 Prozent) deutlich höher als bei Weißen (9,6 Prozent).

Ferguson, die Kleinstadt in Missouri, wo zwei Drittel der Einwohner schwarz sind und beinahe die ganze Polizei weiß ist, wo der 18-jährige Michael Brown im August vergangenen Jahres erschossen wurde, hat bekanntlich vom US-Justizministerium einen Denkzettel bekommen. Es gebe nicht genug Beweismittel, um gegen den tötenden Polizisten Anklage zu erheben, befand die Untersuchung, doch in Ferguson drangsaliere die Polizei Afroamerikaner, zum Teil auch, um mithilfe von Strafzetteln die Stadtkasse aufzubessern. Den Anwohnern war das natürlich bekannt: 93 Prozent der Festnahmen betreffen Schwarze.

Polizei soll ansprechbar werden

Der Polizeichef von Ferguson ist zurückgetreten. Das Justizministerium drängte, die Stadt müsse ihre Polizeipraxis umstellen. Weg von einer Stadt, in der Festnahmezahlen als Erfolge gewertet werden, hin zu einer, in der „Community-Policing“ und vorbeugende Arbeit im Vordergrund stehen. Die Polizeibeamten sollten nicht mehr als „Außenstehende“ auftreten, sondern als ansprechbarer Teil der Bevölkerung. Beamte müssten besser geschult werden, auch um deeskalierende Maßnahmen einzusetzen. Am 7. April konnten dann auch die Bewohner von Ferguson umgestalten: Drei Stadträte wurden neu gewählt. Bislang waren fünf der sechs Stadträte weiß.

Polizei und politische Führung „repräsentativer“ zu machen löst nicht alle Probleme. Im März hat das Justizministerium einen Bericht über das 1,5 Millionen Einwohner und rund 6.600 Polizisten zählende Philadelphia veröffentlicht: etwa 42 Prozent der Einwohner sind schwarz, 37 Prozent weiß, der Bürgermeister ist schwarz, der Polizeichef schwarz, der zuständige Staatsanwalt schwarz. Es wird viel geschossen in Philadelphia. Von 2007 bis 2013 hätten Beamte in 364 Fällen auf Menschen geschossen. 59 der 382 Verdachtspersonen, auf die geschossen wurde, waren unbewaffnet. Sagenhafte 80 Prozent der Personen, auf die geschossen wurde, waren afroamerikanische Männer. Von 2007 bis 2013 kamen sechs Polizisten ums Leben. 59 Prozent der 454 schießenden Beamten seien weiß gewesen, 34 Prozent schwarz.

Das entspricht ziemlich genau der Demografie der Polizei von Philadelphia. Und Polizeichef Charles Ramsey sagt: Etwa 85 Prozent der Mordopfer in Philadelphia seien Afroamerikaner, ebenso 85 Prozent der Mörder. Das Justizministerium empfiehlt daher die bessere Ausbildung von Polizisten. Häufig schätzten Beamte das „Bedrohungsszenario“ falsch ein. Auch die nun in manchen Städten eingeführten Bodycams an Polizisten signalisieren, dass die Öffentlichkeit aufpasst. Aber dass die Polizei in einem Land mit mehr als 200 Millionen Schusswaffen in Privathänden zur Nervosität neigt, ist auch verständlich.

Reformen zur Imagepflege

Die US-Polizei ist eine Klassenpolizei. Um sie zu einer Polizei für alle zu reformieren, braucht es mehr als nur Imagekorrekturen

Man dürfe die gesellschaftlichen Gegebenheiten nicht aus den Augen verlieren, betonte der Historiker Sam Mitrani, Autor eines neuen Buchs über die Polizei in Chicago. Die auch von „liberalen“ Kritikern geäußerte Annahme, die Polizei existiere, „um die Bevölkerung zu schützen“, gehe an der Realität vorbei. In den USA sei die moderne Polizei im 19. Jahrhundert entstanden, weil die Elite besorgt gewesen sei über die zahlreichen Arbeiter in den neuen Industriemetropolen. Es sei der Job der Polizei, „Ordnung durchzusetzen unter denen, die am meisten Grund haben, das System abzulehnen – und heutzutage sind das disproportional arme schwarze Menschen.“

Ausgerechnet FBI Direktor James Comey hat dieses Thema jüngst in einer Rede angesprochen. Polizei und Ermittler müssten „zugeben, dass viel von unserer Geschichte nicht schön ist“. Oftmals habe die Polizei den „Status quo aufrechterhalten, einen Status quo, der oft brutal unfair war gegenüber missbilligten Gruppen“.

Die Proteste in Ferguson und anderswo haben eine Diskussion über Polizeiwillkür erzwungen, ähnlich wie Occupy das vor ein paar Jahren geschafft hat. Die Polizeireformen jetzt sind im Prinzip positiv. Hat Ferguson erst mal ein paar Dutzend afroamerikanische Polizeibeamte, ist das gut. Doch die USA leben in der Ära Obama. Meist wird nur das Image, nicht die Wirklichkeit verändert. Auch das zeigte Occupy. Den Polizeireformen droht ein ähnliches Schicksal. KONRAD EGE