: „Eine fürchterliche Normalisierung“
PROFITEURE Die Gedenkstätte Topographie des Terrors zeigt eine Ausstellung zur Deportation von Juden aus dem badischen Lörrach. Die Aktion mit Modellcharakter zeigt, wie die Kamera dabei zur Waffe wurde
INTERVIEW JAN SCHEPER
taz: Herr Hesse, die Ausstellung „Vor aller Augen“ zeigt den Verlauf der Deportation von Juden aus dem badischen Lörrach im Oktober 1940 und die anschließende zeitnahe Versteigerung von dessen Besitz. Welchen dokumentarischen Wert besitzen die Fotos heute und welche Funktion hatten sie damals?
Klaus Hesse: Die Bilder sollten entweder für eine städtische Chronik des Krieges in Lörrach verwandt werden oder sie dienten internen Zwecken der Polizeiverwaltung. Fotograf war vermutlich ein Kriminalpolizeibeamter. Konkret bedeutet das jedoch, Deportationen von Juden wurden als „bildwürdig“ gesehen – als sensationelles Ereignis. Es hat in der fotografischen Dokumentation und Rezeption der Aktion somit eine Art fürchterliche Normalisierung stattgefunden. Die Deportation galt anscheinend vor dem Hintergrund fortwährender antijüdischer Politik den meisten „Volksgenossen“ als folgerichtig. Die Kombination aus Deportation und Vermögensverwertung durch die Nationalsozialisten ist bislang fast bildlos gewesen, weil Bilder von Auktionen des Vermögens der Deportierten bisher fast völlig fehlten. Erstmals wird nun mithilfe der Fotos aus Lörrach eine Visualisierung der Verklammerung von Mord und Raub möglich. Erschreckend ist, welche Popularität die Auktionen als „Veranstaltung“ offensichtlich hatten, wie die Fotos plastisch belegen.
Die Deportation ist eine der ersten überhaupt im Dritten Reich. Hatte die Aktion einen Modellcharakter?
Initiativ waren in Baden und der Saarpfalz vor allem die Gauleiter. Aber auch das Reichssicherheitshauptamt in Berlin wollte wahrscheinlich wissen, ob es möglich war, in Zusammenarbeit mit Ordnungspolizei, Landratsämtern und anderen Behörden auf einen Schlag und völlig überraschend 6.500 Menschen aus ihren Häusern zu holen, zu erfassen und zu deportieren. Im Polizei- und Sicherheitsapparat der SS gab es vielleicht Skepsis im Hinblick auf Reaktionen der Öffentlichkeit. Nach der Pogromnacht 1938 hatte es durchaus auch kritische Töne gegeben, vor allem Kritik an der Zerstörung materieller Güter. Die Fotos der Lörracher Szenerie belegen zumindest, dass es zwei Jahre später erneut vielköpfigen Zuspruch von Zuschauern der Deportation gab, die dabei sehr neugierig und völlig gleichgültig wirken.
Wie beurteilen Sie die oft schwer deutbare Mimik der Zuschauer in Lörrach?
Auch wenn die Gesichter meist Indifferenz spiegeln, nicht eindeutig anders interpretierbar sind, gibt es vereinzelt – meist junge – lachende Personen. Gestapo und Ordnungspolizei scheinen kaum Wert auf eine wirksame Absperrung gelegt zu haben. Man lässt neugierige „arische“ Nachbarn sowie Dutzende Jugendliche und Kinder sich bis direkt vor die Sammelstelle drängen. Alles bei Tageslicht. Dies lässt sich logistisch erklären – nachts wäre mehr Bewachungspersonal nötig gewesen –, ist aber dennoch ein bemerkenswert offensives Vorgehen. Der Wert der Fotos liegt darin, wie früh man im Reichsgebiet sehen und wissen konnte, wie massiv, umfassend und „final“ mit der jüdischen Opfergruppe umgegangen worden ist. Seit dem Frühjahr 1933 wurde die Öffentlichkeit langsam, aber konsequent mit öffentlichen Szenen des Gleichschaltungsterrors nach der Machtübernahme – auch in der Provinz – an die sichtbare, gewaltsame Ausgrenzung von Menschen als sogenannte Volks- und Staatsfeinde herangeführt und gewöhnt. Die Kamera wurde ein gezielt eingesetztes politisches Instrument, eine Waffe, die öffentlich benutzt wurde.
Die Bildunterschriften arbeiten mit der begrifflichen Trias „Täter, Opfer, Zuschauer“ des Holocaustforschers Raul Hilberg. War es möglich, Beteiligte in Lörrach persönlich zu identifizieren?
Ja, es war möglich, Tatbeteiligte zu identifizieren, aber es sind bis jetzt ausschließlich jüdische Opfer erkannt worden. Dies liegt darin begründet, dass diese Ereignisse in der Nachkriegszeit – besonders in überschaubaren lokalen Kontexten in der „Provinz“ – hochgradig tabuisiert worden sind, das wirkt noch heute. Aus den Fotos von 1940 geht klar hervor, dass die zuschauenden Lörracher wissen oder ahnen mussten, dass ihre jüdischen Mitbürger keinem gutem Schicksal entgegengehen würden, vor allem aber, dass allein ihre brutale Vertreibung schon ein ungeheuerliches Verbrechen darstellte. Die einen Monat später aufgenommenen Bilder der Versteigerungen zeigen dann, wie moralfrei und unerschüttert sich ein Großteil der örtlichen Bevölkerung um die Schnäppchen aus jüdischem Besitz geschlagen hat.
Die Versteigerungen in Lörrach wurden nach der Katalogisierung des jüdischen Hausrats per Zeitungsannonce angekündigt. Wie lief das weitere Verfahren ab?
Es wurde ein vereidigter, „öffentlich bestellter“ Versteigerer beteiligt. Die Versteigerungen fanden oft in den Wohnungen der Deportierten statt, um sich jeglichen weiteren Aufwand zu sparen. Auch sind auf den Fotos auf dem Auktionstisch Bieterlisten erkennbar. Diese Dokumente haben später besonderen Wert erlangt. Mithilfe der Listen kam es später zu Restitutionsverfahren für jüdische Geschädigte, die überlebt haben.
Erscheinen Ihnen die Bilderserien repräsentativ?
Das Verhältnis der Deutschen zum NS-Regime ist massiv auch von kollektiver Vorteilsnahme, vom Profiteurstum geprägt worden. Es gab von Beginn an Partizipationsmöglichkeiten am Terror für jene, die Lust an physischer Gewalt und Macht empfanden, aber vor allem für viele im Hinblick auf den eigenen materiellen Vorteil aus dem Schicksal Verfolgter. Das gilt für die „großen“ Arisierungsgewinnler wie für die „kleinen Leute“ auf Schnäppchenjagd.
■ Klaus Hesse, Jahrgang 1955, Fotohistoriker, ist Kurator der Topographie des Terrors
■ „Vor aller Augen – Die Deportation der Juden und die Versteigerung ihres Eigentums: Fotografien aus Lörrach, 1940“. Topographie des Terrors, bis 8. Januar 2012
■ Gleichnamige Monografie von Andreas Nachama und Klaus Hesse (Hrsg.), Verlag Hentrich & Hentrich, 9,80 Euro