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Archiv-Artikel

Gefühlte Wirklichkeit

’68 und der Nationalsozialismus: Viel großflächige Theorie, die wenig vom Holocaust, dafür mehr vom Kapitalismus wissen wollte

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

„Nie wieder!“: Der knappe, seltsam gegenstandslose Imperativ war ’68 auf Wänden, Plakaten und Spruchbändern allgegenwärtig. Und jedem war klar, was gemeint war. „Nie wieder Krieg“ und „Kein neues ’33“ präzisierten das große Nein einer Generation. Der Krieg, um den es ging, hatte im Geschichtsbild von ’68 nicht im September 1939 begonnen, sondern am Tag der Machtergreifung durch die Nazis. Denn: „Kapitalismus führt zum Faschismus“. Und Faschismus, das war klar, konnte nur in Krieg und Vernichtung enden.

Einer der theoretischen Lehrer der Protestierenden von ’68 brachte den Absolutheitsanspruch auf eine Formel, die eine entscheidende Differenzierung barg. „Hitler hat den Menschen den kategorischen Imperativ aufgezwungen, alles dafür zu tun, dass Auschwitz sich nicht wiederhole.“ Theodor W. Adorno hatte damit einen Namen für das Grauen des „Faschismus“ (wie der Nationalsozialismus in der Theoriesprache von ’68 hieß) gefunden. Die Verdichtung des Nationalsozialismus auf Auschwitz wurde – ein Jahrzehnt bevor der Terminus „Holocaust“ aufkam und mehr als zwanzig Jahre vor der Rede vom „Zivilisationsbruch“ – zur Schlüsselmetapher des Vergangenheitsdiskurses.

In der Angst, Geschichte – diese Geschichte – könne sich wiederholen, waren sich die personell knapp besetzten demokratischen Eliten der deutschen Nachkriegsrepublik mit deren rebellischem Nachwuchs, der Generation von ’68, einig. „Wehret den Anfängen“ war beider praktische Philosophie. Bemerkenswert ist, dass das in den Sechzigern begründete Projekt einer „Aufarbeitung der Vergangenheit“ die Gemeinschaftsleistung zweier Außenseitergruppen war, die sich letztlich fremd blieben. Ihre Fremdheit beruhte darauf, dass für sie das, dessen Wiederkehr sie verhindern wollten, letztlich etwas völlig Verschiedenes war.

Jene, die den Nationalsozialismus erlebt und ihr Handeln dem „Nie wieder“ verschrieben hatten, wurden nach 1945 von der braunen Hinterlassenschaft schier erdrückt. Es gab unspektakuläre Knochenarbeit zu leisten: vom Aufspüren ehemaliger Täter über die Klärung von Versorgungsansprüchen für Opfer bis hin zu juristischen und moralischen Aufräumarbeiten. Es waren Ausnahmegestalten dieser Generation, Intellektuelle wie der Linkskatholik Eugen Kogon mit seiner Analyse des SS-Staates, Journalisten wie Eckart Heinze, der unter dem Pseudonym Michael Mansfeld unermüdlich Altnazis aufspürte, Juristen wie Fritz Bauer, der die Prozesse vorbereitete, in denen – endlich – die Täter von Auschwitz verurteilt werden konnten. All dies geschah lange vor ’68.

Die immense Arbeit dieser ersten republikanischen Generation bestand darin, den Blick auf das freizulegen, was zwischen 1933 und 1945 wirklich geschehen war: ein realistisches Bild von dem zu gewinnen, was von der Mehrzahl der Deutschen glücklich vergessen und gründlich derealisiert worden war. Das Erbe ihrer Folgegeneration, der Achtundsechziger, war ähnlich drückend und doch ganz anders. Auch für sie war das Erbe der Vergangenheit eine Flut – eine Flut von Fantasien.

Es mag banal erscheinen, auf den Unterschied hinzuweisen, der daraus resultiert, ob man die Wiederkehr von etwas fürchtet, das man erlebt oder von dem man sich nachträglich mühsam eine Vorstellung gebildet hat. In dieser Banalität liegt jedoch ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis von ’68. Die nachgeborene Generation hatte nicht nur ein anderes Bild der Nazizeit, sondern sie verband damit auch andere Fantasien – Ängste, Befürchtungen – als die Erlebnisgeneration. Die Kriegs- und Nachkriegskinder schlugen sich mit einer Mixtur von Realität, Erfahrung und Fantasie herum, die wesentlich aus familiärem Erleben bestimmt war. Das Schweigen der Eltern über ihre Rolle im Nationalsozialismus fachte bei den Kindern enorme Einbildungstätigkeit an.

Viele Achtundsechziger erlebten ihre Eltern als kalte, mitunter monströse Gestalten, denen alles zuzutrauen war. Sie waren nicht identifikationsfähig. Stattdessen flüchteten sie sich in Gegenidentifizierungen und brachten das Drama der Verfolgten, der KZ-Insassen, der politischen Häftlinge und rassisch Verfolgten auf die Bühne ihrer Vorstellungen. Die Achtundsechzigergeneration versuchte mit allen Mitteln gegen den genealogischen Zwang einen autopoietischen Neuanfang zu setzen.

Indem sie sich mit den Opfern der Elterngeneration identifizierte, praktizierte sie gelebte Gegengeschichte als leibgewordene Wiedergutmachungsfantasie. Oft nannten sie ihre Kinder Sarah und Leah, Daniel und Benjamin. Solche Strategien des Ungeschehenmachens fußten auf Fantasien über ein persönlich destruktives Erbe der Väter. Die raren empirischen Studien, die es zu ’68 gibt, zeigen, wie ausgeprägt bei vielen Angehörigen dieser Generation das Phantasma eines gegen sie gerichteten Infantizidimpulses der Eltern war – und, korrespondierend, der Selbstverdacht, etwas von dieser mörderischen Erbschaft stecke in einem.

Der – man verzeihe das Wort – Startschuss für ’68 war ebenso eng mit dem Phantasma einer Wiederkehr des Nationalsozialismus wie mit der eines elterlichen Infantizidimpulses verknüpft. Als Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch die Kugel eines Berliner Polizisten getötet wurde, brach die Angst der Nachgeborenen schlagartig auf. War der Mord in Uniform nicht der Beweis für das Wiederaufleben des Gewalterbes?

Am Abend jenes Junitages fand im Berliner SDS-Büro eine erregte Diskussion statt. Überliefert ist das Statement: „Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren.“ Die Fantasie vom mörderischen Fortwirken der NS-Gewalt in der als instabil eingeschätzten Republik war ausgesprochen. Zugleich ging es um die Selbstverortung jener Nachgeborenen, die ihre Eltern als die „Generation von Auschwitz“ wahrnahmen.

Wer war man eigentlich, wenn der eigene Ursprung in Nebeln lag? Wenn man aus unklaren Zeichen zum Schluss kommen konnte, man sei das Kind von Mördern? Heute, zu einem Zeitpunkt, an dem das Achtundsechzigerbashing Gesellschaftsspiel geworden ist, sind diese bedrängenden Selbstzweifel kein Thema mehr. Nicht zuletzt übrigens deshalb, weil sich viele Achtundsechziger längst in einer neuen moralischen Zweifellosigkeit eingerichtet haben. Sie sind Weltmeister in Betroffenheit, nachgeholter Trauer und moralischer Unangreifbarkeit geworden.

Auch wegen dieses hochfahrenden Gestus wird die Frage nach der Legitimation von ’68 neu gestellt. War der Nationalsozialismus die entscheidende Hintergrundkonfiguration des Protests? Welche Rolle spielte der Mord an den europäischen Juden? War Auschwitz das Menetekel von ’68? Waren die Achtundsechziger die Generation, die versuchte, den braunen Sumpf trockenzulegen, und damit festen Boden für eine „neue Republik“ schuf?

Der berühmteste Satz eines Achtundsechzigers nach ’68 ist zweifellos Joschka Fischers Begründung für die erste militärische Intervention mit deutscher Beteiligung nach 1945. „Ich habe nicht nur gelernt, nie wieder Krieg, sondern auch: Nie wieder Auschwitz. Die Bomben sind nötig, um die serbische SS zu stoppen.“ Erkennbar aus dem Geist des alten „Nie wieder“, enthält der Satz doch eine sublime Geschichtsklitterung. Dreißig Jahre nach ’68 ist er aus jenem Geschichtsbewusstsein heraus formuliert, das den Holocaust als Wesenskern des Nationalsozialismus betrachtet. Das war 1968 keineswegs der Fall.

Und dennoch enthält Fischers Ausspruch eine Wahrheit, weil er den Untergrund des Lebensgefühls von ’68 zum Sprechen bringt. Zur Hochzeit der Protestbewegung war Auschwitz – trotz Adorno – kein Schlüsselwort. Nicht die Vernichtungspolitik, sondern der „weltgeschichtliche Zusammenhang“ von Kapitalismus und Destruktion bestimmte die Sicht auf die Zeit vor 1945. Der Versuch, das Unbegreifliche zu fassen, verlangte breitflächigere Konzepte als die historische Rekonstruktion der zwölf NS-Jahre. Gefragt waren Theorien, die das Phänomen Nationalsozialismus in einen geschichtsphilosophischen Letzterklärungszusammenhang einordnen konnten. Nur ein universalisierender Zugriff entsprach dem Bedürfnis der jungen Generation nach struktureller Erklärung.

Genau dies war der Punkt, an dem sich die neue Gegenelite der Achtundsechziger von jener der vorhergehenden Generation absetzte, die den mühsamen Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit auf den Weg gebracht hatte. Die Achtundsechziger hielten ihre Vorläufer, kurz gesagt, für pragmatisch beschränkt und theoretisch hilflos. Die Analysen von ’68 hielten sich nicht lange mit historischen Details auf, sie favorisierten die Totalperspektive. Ein Vorbild fanden sie in der Kritischen Theorie, die den Nationalsozialismus aus der Sicht eines epochalen Niedergangs des Kapitalismus interpretierte. Horkheimers „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ fasste das Analyseschema zusammen: Der Nationalsozialismus galt als eine besondere Ausdrucksform des Faschismus und als Spielart des Kapitalismus.

Diese Perspektive ließ die Arbeit der antifaschistischen Gründungsgeneration der BRD wie eine notwendige, aber letztlich doch naive, an Fakten und Fällen orientierte Vorarbeit dessen erscheinen, was erst noch zu leisten war. Ironischerweise war dies nicht nur falsch, wenn auch weniger auf der Ebene der Realität. Die Arbeit von ’68 setzte auf der – apokalyptisch gestimmten – Fantasieebene ein. Sie beinhaltete nicht weniger als die Vorstellung eines metaphysisch Bösen, das die Geschichte und das eigene Leben durchwaltete: ein unsterbliches Monster, das immer wieder sein Haupt erhebt.

So durfte man es freilich nicht sagen. Der wissenschaftliche Name dafür war: Wertgesetz. Unterhalb dieser abgedichteten Erklärungsebene wogte freilich das Leben und der Zweifel. Fischers Satz enthält den Nachklang einer anderen Erfahrung. Jeder Achtundsechziger hatte ein inwendiges Bild vom Nationalsozialismus, das wenig mit dem analytischen Popanz „Faschismus“ oder Kapitalismusanalyse zu tun hatte. Es war das unscharfe Bild, das dem eigenen Leben abgewonnen war. Es war die Intuition, dass die schweigende Verstocktheit der Eltern, die man höchst leiblich erfahren konnte, aus einer Quelle stammte, für die die Chiffre „Nationalsozialismus“ stand.

Wenn wir ’68 gerecht beurteilen wollen, dann gilt es zu verstehen, dass die damalige „Analyse“ der Verhältnisse sterile Abstraktionen erzeugte, die mit der Realität wenig zu tun hatten. Das Empfinden befeuerte dagegen eine Fantasie, die wir bis heute nicht ausreichend verstanden haben.

CHRISTIAN SCHNEIDER, Jahrgang 1951, Soziologe und Analytiker, hat vielfach über den Nationalsozialismus geschrieben, im taz.mag („Eichmann und die Unsterblichkeit“) am 8. Juli 2000 über „Götzen“, die Memoiren des Holocaustorganisators Adolf Eichmann