: Auf die Finger schauen-betr.: "Infamie und Opferlust", taz vom 15.11.88
betr.: „Infamie und Opferlust“, taz vom 15.11.88
Lieber Hartung, von dir sind wir anderes gewohnt: Überlegung und Überlegenheit schienen deine Stärken zu sein. Jetzt hast du in deiner Auseinandersetzung mit Droste jede Fassung und Überlegenheit verloren und schlägst unüberlegt blindwütig zurück. Und selbstgerecht. Und maßlos eitel. Und geschichtslos. Denn dem jüngeren Kollegen Droste und seinesgleichen wirfst du ausgerechnet ihre Jugend vor: Du empörst dich darüber, daß sie im deutschen Herbst sozialisiert wurden. Und? Selbst wenn diese allzu leichte Erklärung stimmen sollte, was können sie dafür? Hast du dir etwa die Stunde deiner Geburt ausgesucht?
(...) Da war eure Kollegin Zucker vor einigen Tagen wesentlich besser: Sie stellte bei euren jüngeren KollegInnen pubertäres Verhalten fest und ärgerte sich - in Maßen - darüber. Sie empörte sich aber nicht. Und von Kündigungen wollte sie gar nichts hören.
Auf die Finger schauen solltet ihr euren jüngeren KollegInnen schon häufiger und gründlicher, bevor ein Donnerwetter viel zerschlägt und wenig aufrichtet. KollegInnen, die noch keinen Sinn für Geschichte entwickelt haben und die „Kultur“ mit einem pubertären Hang und Drang beobachten und betreiben, dürft ihr die Zeitung nicht überlassen, eine Sektion der Zeitung auch nicht. Aber absägen ist doch arg unreif.
Auch ich gehöre zu deiner Generation und weiß von der Versuchung, unsere heldenhafte Zeit zum Maß aller Dinge zu machen. Aber weder erreichte die Geschichte mit uns ihren Gipfel, noch erreicht sie mit Droste ihren Tiefpunkt. Zeige doch deinen Sinn für Geschichte.
G.Aparicio, Stuttgart 1
Ich hätte da nur eine Frage, wobei ich mir meiner Stellung, als unwürdiger, dem Herrn K.Hartung, der Speerspitze des Oggersheimer Antifaschismus, keineswegs ebenbürtiger und angemessener Leser, durchaus bewußt bin:
Warum brauchten wir keine Furcht vor dem „Holocaust mit liberal-humanistischen Mitteln“ haben? Weil es ihn noch nicht gibt? Am liberal-humanistischen Kapitalismus krepieren jährlich mehr Menschen als am Faschismus. Oder, weil dieses Krepieren (meist) so weit weg vom liberal-humanistischen Berlin geschieht, daß Herr K.Hartung von all dem nichts gewußt haben sollte?
Bert Rothermel
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