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„Das Publikum beginnt, über den Zaun zu springen“

Jiri Hajek, Außenminister der CSSR während des Prager Frühlings und Mitunterzeichner der Charta 77, konnte vor zwei Wochen zum ersten Mal seit 1968 ins westliche Ausland reisen / In Wien sprach Klaus Bachmann mit ihm über eine Veränderung des politischen Klimas in der CSSR  ■ I N T E R V I E W

taz: 20 Jahre nach dem Prager Frühling bekennen sich die Führungen anderer Länder mehr oder weniger offen zur Reform Gorbatschows. Wie sieht das in der CSSR aus?

Hajek: Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wurde dem Land eine Regierung aufgezwungen, die die alten stalinistischen Strukturen wieder einführte. Das führte zu einem gewaltigen Aderlaß: In einem Land von 15 Millionen Einwohnern wurden 500.000 aus dem politischen Leben verbannt. Eine noch größere Zahl von Leuten wurde aus wichtigen Positionen in Kunst und Kultur vertrieben. Eine Emigration von 150.000 Menschen bedeutet eine Schwächung der Gesellschaft, denn das waren gerade die aktivsten. Hinzu kommt das Trauma derjenigen, die sich engagiert haben und nun sehen, daß das nichts bringt. Die Reform hatte zu einer gewissen Haltung des Konsums geführt, und das kam der neuen Führung sehr zupaß, daß nun die Leute begannen, sich ins Privatleben zurückzuziehen und nur noch dem Konsum zu frönen. Folglich waren die Menschen frustriert und sehr vorsichtig. Wir in der Charta haben uns die ganze Zeit über wie eine Art Sportmannschaft gefühlt, die zwar ihre Fans hat, die am Spielfeldrand stehen und zusehen. Jetzt habe ich den Eindruck, daß in diesem Jahr das Publikum beginnt, über den Zaun zu springen.

Gibt es auch in der Partei Leute, die springen?

Die Partei hat ihren Charakter nach den ganzen Säuberungen sehr verändert. Die Engagierten sind größtenteils weg. Der Kern der Konservativen ist zwar langsam am Aussterben, aber die haben ja schon damals keine Bedeutung gehabt. Ohne die Intervention hätten sie überhaupt keine Rolle gespielt. Die Leute, die danach in der Partei blieben, haben das vor allem deshalb getan, um ihre Existenz, ihre Stellung zu behalten, aus Rücksicht auf ihre Kinder. Oder aus Gehorsam. Nur so ist es zu erklären, daß sie ganz dumme und unsinnige Thesen wie die von der Konterrevolution oder der „internationalen brüderlichen Hilfe“ mitzutragen bereit waren. Das alles hat die Partei stark verändert. Aber man soll eine Änderung der Leute nie ausschließen.

Es hat ja in den vergangenen Tagen eine legale Demonstration in Prag gegeben, die von der Charta 77 und anderen Oppositionsgruppen aus Anlaß des 40.Jahrestages der Erklärung der Menschenrechte organisiert wurde. Es gibt nun neben der Charta 77 auch andere Oppositionsgruppen.

Was ich persönlich am perspektivenreichsten sehe, ist das Entstehen einer unabhängigen Jugendvereinigung für den Frieden, die aus Leuten um die 20 besteht und die damals, am Jahrestag der Invasion, am 21.August 1988, zum ersten Mal öffentlich aufgetreten ist. Das waren immerhin 10.000 Leute. Und das hat sich dann am 28.Oktober wiederholt. Ich habe mit einigen dieser Leute gesprochen - die imponieren mir.

Vor dem Jahrestag der Gründung der Tschechoslovakischen Republik hat sich Vaclav Havel an die Behörden gewandt, um das Geschichtsseminar, das dann aufgelöst wurde, genehmigen zu lassen.

Vaclav Havel hat sich als Vorsitzender des Vorbereitungskomitees an die Behörden gewandt. Die Zivilbehörden waren sehr anständig. Havel war sehr optimistisch. Und dann wurden plötzlich alle Leute, die mit den Vorbereitungen zu tun gehabt hatten, festgenommen.

Obwohl das damals nur etwa 80 Leute waren, die auch keinerlei öffentliche Demonstration geplant hatten, wurden sie festgenommen. Was ist denn in den vergangenen Wochen passiert, daß nun plötzlich eine große Demonstration in Prag genehmigt wurde?

Das ist so eine Art Oszillation. Schon vor dem 28.Oktober hatte die Parteispitze beschlossen, den Jahrestag der Republikgründung sozusagen zu rehabilitieren. Sie wollte sozusagen dem Volk damit näherkommen. Nur haben diese Leute noch die alte stalinistische Vorstellung, daß alles unter der Kontrolle der Partei geschehen muß, sonst ist es antisozialistisch und konterrevolutionär. Zunächst war man unserem Vorhaben eines Geschichtsseminars in der Verwaltung durchaus geneigt, aber dann kam wohl eine Anweisung von oben, das Ganze sei feindlich und müsse unterdrückt werden. Und inzwischen ist vielleicht ein „guter Rat“ aus Moskau gekommen. Es hat zwischen dem Verbot des Seminars und der Demonstration jetzt einige Besuche aus Moskau in der CSSR gegeben. Und am 17.November wurde zum ersten Mal auf einer Sitzung des Zentralkomitees der Nationalen Front über die Deklaration der Menschenrechte gesprochen. Man sprach von einem Menschenrechtsforum und einem Komitee. Und dann wäre es sehr unangenehm gewesen, wenn man eine Demonstration zu Ehren dieses Dokumentes, das man gerade entdeckt hatte, unterdrückt hätte.

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