: Dazwischen. Ostmitteleuropäische Reflexionen – Vorwort
Von Frank Herterich und Christian Semler
Erstveröffentlichung in: Frank Herterich, Christian Semler (Hrsg.), Dazwischen. Ostmitteleuropäische Reflexionen, Frankfurt / Main 1989. Suhrkamp Verlag
Vorwort
Nach vier Jahren Gorbatschowscher Reformpolitik eine Aufsatzsammlung herauszugeben, die Gedanken von Autoren aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn – aus jener Zone also, die neuerdings wieder Ostmitteleuropa genannt wird – vereint, setzt sich leicht dem Verdacht des Anachronismus aus. Bedarf es denn überhaupt noch der immer gleichen Mahnungen, das »europäische Erbe« nicht zu verschleudern, wo Gorbatschow selbst in seiner berühmten »Prager Rede« von 1987 die europäischen Völker als legitime Erben einer Zivilisation ausgerufen hat, die auf Renaissance, Humanismus und Aufklärung ruht? Verrät die Beschwörung einer europäischen Identität nicht einen ganz bodenlosen Konservatismus, der angesichts globaler Herausforderungen das eurozentrische Fähnchen schwenkt? Schließlich: Die Perestrojka ist spannend, der Unterhaltungswert der Ereignisse, die sich im scheinbar immer gleichen Wechsel von Reform und deren Niederlage im Vorhof des sowjetischen Reiches abspielen, wird immer geringer.
In seinem Aufsatz Un occident kidnappé[1]hatte Milan Kundera vor einigen Jahren eine Situation geschildert, wo der Hilferuf der um ihre kulturelle Identität ringenden ostmitteleuropäischen Nationen im Westen auf keinerlei Gehör trifft – einfach, weil bei uns Kultur nicht mehr als lebensnotwendig empfunden wird. Kunderas provokante These von der drohenden Strangulierung der ostmitteleuropäischen Nationen, von der Sowjetisierung ihrer Lebensformen, hat innerhalb der Intellektuellenkreise der östlichen Hemisphäre für schroffe Auseinandersetzungen gesorgt, bei uns – in der Bundesrepublik – blieb sie weitgehend unbeachtet. Kunderas Aufsatz hat den vorliegenden Sammelband mit angeregt. Genauer gesagt: der Widerspruch, der sich gegenüber seiner Vorstellung entwickelt hat, derzufolge die kleinen Gesellschaften Ostmitteleuropas Gefahr laufen, wie durch ein Fatum von einem freiheitsfeindlichen, irrationalen Behemoth zermalmt zu werden. Tatsächlich können wir eine genau entgegengesetzte Entwicklung beobachten – und gerade deshalb ist die Beschäftigung mit den Verhältnissen Ostmitteleuropas so spannend. Seit den späten siebziger Jahren taucht aus dem Gebilde, das wir ziemlich gedankenlos »Osteuropa« genannt hatten, eine neue, vielgliedrige und abwechslungsreiche Landschaft auf. Das reine Hinsehen genügt, um unsere Vorurteile zu korrigieren.
Wir waren es gewohnt, die nachstalinistischen Gesellschaften als Gebilde anzusehen, in denen der Partei-Staat die öffentliche Sphäre einschließlich des Kommandos über die verstaatlichte Ökonomie monopolisierte, die Bürger hingegen um den Preis der politischen Anpassung ihr Glück im privaten Winkel suchten. Mit der polnischen Krise 1980/81 wandelte sich im Laufe weniger Monate eine scheinbar atomisierte und amorphe »Masse« in eine Zivilgesellschaft, die ihre Forderungen und Bedürfnisse in der Zehn-Millionen-Gewerkschaft Solidarność und in unzähligen Initiativen artikulierte.[2]Was in den siebziger Jahren sich ausnahm wie die Anstrengung isolierter, nur ihrem Wunsch nach moralischer Integrität verpflichteter Individuen, war in Wirklichkeit die Gesellschaft in nuce gewesen. Das Bündnis von laizistisch-demokratischen Linken, Liberalen und Christen unterschiedlicher Richtungen, das 1976 am Beginn des KOR in Polen gestanden hatte, nahm die gesellschaftliche Koalition nach dem August 1980 vorweg.[3]Vor allem aus diesem Grunde kann der Begriff des „Dissidenten“ innerhalb der Entwicklung demokratischer Kräfte in Ostmitteleuropa nicht benutzt werden. In Prag hört man heute das in selbstironischer Zuspitzung vorgebrachte Diktum, seit der Schlacht am Weißen Berg 1620 seien die Kräfte nicht mehr zusammengekommen, die sich in der Charta 77 gefunden hätten. In der Tat hatte die Charta zuwege gebracht, woran die demokratische Republik der Zwischenkriegszeit gescheitert war: das Einvernehmen der katholischen und der böhmisch-protestantischen Tradition. In gleicher Weise sind die »westlich«-demokratischen und die populistisch-nationalen Strömungen der Opposition in Ungarn bemüht, zu einer neuen Aktionseinheit zu finden.
Im Westen ist manchmal die Befürchtung zu hören, nur die sowjetische Hegemonie über die kleinen Nationen ihres westlichen Vorhofs habe verhindert, daß diese ihren schlechten Leidenschaften gegeneinander freien Lauf ließen. Tatsächlich haben jedoch gerade die von der Sowjetunion abhängigen Machtoligarchien nationalistische Vorurteile mehr als einmal in den Dienst ihrer Politik gestellt. Paradoxerweise sind heute die ostmitteleuropäischen Nationen – trotz weitgehender Reisemöglichkeiten – stärker voneinander isoliert und wissen weniger voneinander als in der Zwischenkriegszeit. Es sind gerade die parteiunabhängigen Publikationen, Klubs und Initiativen, die die Verbindung zum ostmitteleuropäischen Nachbarn suchen, die bemüht sind, den »Ost-Ost-Dialog« zu führen. Sie sind auf der Suche nach einer Übereinkunft, nach gemeinsamen Lösungen für die Zeit, in der ihre Gesellschaften sich vom sozialistischen Weltsystem emanzipiert haben werden.
Eine der Komplikationen der hier beschriebenen Entwicklung besteht darin, daß die an der Macht befindlichen Parteien Ostmitteleuropas die Ressource „Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft und des sozialistischen Weltsystems im Geist des Leninismus“ verbraucht haben. An diesem Punkt manifestiert sich der Unterschied zur Gorbatschowschen Perestrojka, bei der der Rückgriff auf die Neue Ökonomische Politik (NEP) und den späten Lenin geradezu die Legitimitätsgrundlage bildet. Ungeachtet der Tatsache, daß nach wie vor in einzelnen Disziplinen in Ostmitteleuropa bedeutsame marxistische Werke erscheinen, bietet der Marxismus nicht mehr den theoretischen Rahmen für die Reform der retardierenden ostmitteleuropäischen Gesellschaften. In den Reihen der offiziellen politischen Ökonomen macht sich ein kaum noch kaschierter dogmatischer Liberalismus breit, der mehrere Generationen nach der Beschreibung oligopol beherrschter Marktstrukturen von der Möglichkeit einer vollkommenen Konkurrenz schwärmt. Die demokratische Reform, die in Ungarn und Polen jetzt als notwendiger Bestandteil der ökonomischen Reform anerkannt wird, ist das Ergebnis mehr oder weniger planvollen Zurückweichens – sie folgt der Pragmatik des Machterhalts, nicht einer wie immer gearteten Vision der sozialistischen Demokratie. In den internationalen Beziehungen aber sucht man bei den herrschenden Oligarchien vergeblich nach Vorstellungen über ein Europa „jenseits der Blöcke“. In einer Situation, in der sich hegemoniale Positionen der Herrschenden zersetzen, geht die Initiative auf Gruppen über, die nach einer neuen gesellschaftlichen Synthese und nach neuen Formen für das Zusammenleben der europäischen Völker suchen. Es ist dieser Zusammenhang, in dem man die seit einigen Jahren in Ostmitteleuropa initiierte Mitteleuropa-Diskussion beurteilen muß. In der Bundesrepublik wird diese Diskussion als Neubelebung jener Projekte mißverstanden, die während des Ersten Weltkriegs als sanftere Variante des deutschen Imperialismus die wilhelminisch-habsburgische Hegemonie über Zentraleuropa begründen sollten. Mitteleuropa meint im Denken der ungarischen und tschechischen Intellektuellen in erster Linie Ostmitteleuropa. Es geht um eine Reflexion, die die Begrenztheit und die Gefahren der nationalstaatlichen Lösung in der gesamten Region aufweist. Es geht um die Erinnerung an das nicht mehr vorhandene supranationale Potential des alten Ku-Kanien, als man sich – nicht nur in Intellektuellenkreisen – in einer Stadt wie Bratislava (Preßburg) in slowakisch, ungarisch und deutsch verständigen konnte. Freilich, Nazideutschland hat diese multikulturellen Zusammenhänge unwiederbringlich zerstört.
György Konráds Position gegenüber Mitteleuropa[4]etwa erschöpft sich weder in wehmütiger Erinnerung noch in der Abrechnung mit dem nationalen Machtstaat. Er begreift Mitteleuropa als großes kulturelles, gesellschaftliches und politisches Experimentierfeld, in dem die Dichotomien Kapitalismus-Sozialismus, Osten-Westen nicht mehr blockierend wirken. Konservative Kritiker dieses „Traums von Mitteleuropa“ haben unschwer erkannt, daß die demokratischen und supranationalen Impulse aus dem „Osten“ nicht im Konzept der „atlantischen Wertgemeinschaft“ aufgehen. Für die Politiker des Status quo, die glauben, daß auf unabsehbare Zeit zwei hegemoniale Zonen in Europa existieren werden, hat nicht nur die Mitteleuropa-Diskussion, sondern jede Strömung in Osteuropa, die sich gegen die Ordnung von Jalta wendet, etwas Beunruhigendes. Sie fürchten, in die Konvulsionen dieser Region hineingezogen zu werden, die sich aus den Ansprüchen der Völker ergeben, die die Ungunst ihrer geographischen Lage nicht als Schicksal akzeptieren. Daher der geheime Vorwurf des Abenteurertums, der gegen die demokratischen Bewegungen Ostmitteleuropas erhoben wird, seien diese noch so konstruktiv, gemäßigt und dialogbereit. Es existiert heute in dieser Region fast jede nur denkbare Position im oppositionellen Spektrum, aber keine der uns bekannten spricht sich für einen gewaltsamen Umsturz aus oder für den sofortigen Austritt aus dem Warschauer Vertrag. In Anspruch genommen wird allerdings der Rahmen, der durch das Helsinki-Abkommen definiert worden ist: die gleichberechtigte Beförderung von Abrüstung, ökonomischer Kooperation und Verwirklichung von Menschenrechten im Inneren der Staaten wie in ihrem Verhältnis zueinander.[5]Gerade die Verhandlungen am runden Tisch in Warschau und das Verhältnis der neu entstehenden politischen Gruppierungen zur realsozialistischen Machtelite in Ungarn zeigen eine ingeniöse Befähigung der demokratischen Kräfte, Kompromisse auszuarbeiten, die dem Ziel einer demokratischen Verfassungsordnung nicht hinderlich sind, aber den Sicherheitsbedürfnissen der Herrschenden Rechnung tragen. Statt der Strategie des »Alles oder Nichts« finden wir ein vorsichtiges gegenseitiges Abtasten, eine Haltung des Experimentierens, »trial and error«. Im Laufe nur weniger Monate haben die unabhängigen demokratischen Gruppierungen in Polen und Ungarn die historische Phase der gesellschaftlichen Selbstverteidigung hinter sich gelassen. Für die ökonomische und soziale Misere, die sie nicht verschuldet haben, müssen sie jetzt die Mitverantwortung übernehmen. Die bisher gefundenen Lösungen, etwa eine zukünftige Aufgabenteilung zwischen der Gewerkschaft Solidarność und den neu entstehenden Parteien und Klubs in Polen, setzen auf Lernfähigkeit, Geduld, Imagination und unbedingte Friedfertigkeit. Innerhalb einer historisch völlig neuartigen Situation erleben wir den Versuch herrschender Machtoligarchien, im „fliegenden Wechsel“ sich der bisherigen ideologischen Grundlagen zu entledigen, sich in Richtung eines sozialdemokratisch inspirierten Etatismus neu zu stabilisieren. Wir erleben zugleich eine demokratische Opposition, die, eingepreßt zwischen den hohen Erwartungen der Bevölkerung und den Zwang zur Mitarbeit innerhalb des bestehenden Systems, nach Formen für einen stabilen Transformationsprozeß sucht. Diese Suche wäre der Unterstützung demokratischer Organisationen und Parteien im westlichen Europa wert. Wie jedoch das Beispiel insbesondere der westdeutschen Sozialdemokratie lehrt, scheint ihre Hauptsorge darin zu bestehen, daß die herrschenden Machtoligarchien möglichst heil die Krise bewältigen, während die neu entstehenden demokratischen Parteien mißtrauisch beäugt werden und abwarten müssen, ob sie den hohen Maßstäben der Sozialdemokratie genügen. Die Emanzipationsversuche in Ostmitteleuropa erfordern nicht nur finanzielle Hilfe von Staat zu Staat, sondern auch eine gedankliche und emotionale Zuwendung der Gesellschaften. Unterbliebe diese, so würden sich bestehende Frustrationen vertiefen, würde sich der Eindruck verfestigen, das EG-Europa opfere die kleinen ostmitteleuropäischen Nationen auf dem Altar der Stabilität. Hier findet man auch die Quelle des immer noch häufig beschworenen „Geistes von München“, dem die westlichen Mächte angesichts der fortdauernden „kommunistischen Gefahr“ verfallen zu sein scheinen – wobei diese Klage nicht selten von dem klammheimlichen Wunsch begleitet wird, die fetten, westlichen Nachbarn sollten eine Weile in den Genuß der gleichen Diät kommen, die den Völkern des „Ostens“ schon seit Jahrzehnten verabreicht wird.
Wir haben uns bei der hier vorgelegten Aufsatzsammlung auf Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn als Kerngebiet der Region »Ostmitteleuropa« beschränkt. Sicher wäre auch eine Betrachtungsweise möglich, die die baltischen Republiken oder das „westliche“ Jugoslawien einschlösse und damit den Blick weiten würde für die europäische Bedeutung der alten polnisch-litauischen Doppelmonarchie bzw. auf Territorien, die viele Jahrhunderte lang zur Habsburger Monarchie gehört hatten. Für die Zwecke unseres Unternehmens war jedoch entscheidend, daß in den drei genannten Ländern die Auseinandersetzungen um eine demokratische Reform des Realsozialismus kontinuierlich verknüpft waren mit Überlegungen über die „Standortbestimmung“ dieser Länder in Europa; dies im Unterschied zur DDR, wo die „deutsche Frage“ das theoretisch und praktisch alles überschattende Problem darstellt. Wichtig erschien uns darüber hinaus, daß es in diesen drei Ländern großangelegte Versuche gegeben hat, ein Sozialismusmodell zu reformieren, das den Wertvorstellungen und der Lebensweise der Völker dieser Region zuwiderlief. In den demokratischen Erhebungen seit 1953 zeigte sich eine Eigenständigkeit und Selbsttätigkeit, die auf – gewiß ganz unterschiedlich verwurzelten – freiheitlichen Traditionen gründet. Will man die in Westeuropa gebräuchliche Rede von den zwei Geschwindigkeiten auf Osteuropa übertragen, dann nur in bezug auf die Frage, wie groß die Selbständigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Parteistaat ist. Nur in dieser Hinsicht gehört die Sowjetunion (minus den baltischen Republiken), Bulgarien und Rumänien in die Zone eines potentiell aufgeklärten Absolutismus, während Ostmitteleuropa die Zone der Auflösung des Ancien Régime bildet. Unser Interesse als Herausgeber galt und gilt nun der Frage, welchen perspektivischen Blick auf Europa gerade Autoren entwickeln, die in dieser Zone der Auflösung leben. Für die Konzentration auf Polen, die CSSR und Ungarn als „Kernregion“ Ostmitteleuropas spielte schließlich auch die Begrenztheit der Kontakte und der Kenntnisse der Herausgeber sowie das Problem eine Rolle, Autoren zu finden, die dazu bereit und in der Lage waren, für diese Sammlung einen Beitrag zu leisten. Wir wollen solche Zufälle nicht hinwegtheoretisieren.
Problematischer ist unsere Verwendung des Begriffs „demokratische Oppositionelle“ bzw. „demokratische Opposition“. Unstreitig haftet diesem Generalisierungsversuch etwas Willkürliches an. Wir glauben, daß wir dennoch berechtigt sind, von der demokratischen Opposition in Ostmitteleuropa zu sprechen, weil eines ihrer Hauptcharakteristika gerade die Zusammenarbeit, teilweise die Verschmelzung sozialistischer, liberaler und christlicher Strömungen ist. Zwar differenzieren sich innerhalb politischer Bündnisse die weltanschaulichen Richtungen zunehmend, doch wird jeder, der die Region kennt, wissen, daß gemeinsame Erfahrungen und Kämpfe zu Amalgamen geführt haben. Ein christlicher Konservativer in Prag wird mit einem westdeutschen Gesinnungsfreund größere Schwierigkeiten haben als mit seinem laizistisch-sozialistischen Gesprächspartner in Warschau. Die Herausgeber waren bemüht, dieser Vielfalt im Begriff „demokratische Opposition“ gerecht zu werden.
Es fehlen indes gänzlich Beiträge aus dem nationalistischen, tendenziell „antiwestlichen“ Lager. Strömungen dieser Art waren und sind in Ostmitteleuropa virulent, sie prägten in Ungarn und Polen zum Teil das politische Bild der Zwischenkriegszeit, kennzeichneten das Weltbild einer großen Fraktion der konservativen herrschenden Schichten. Wir sind weit davon entfernt, die zahlenmäßig sehr große Anhängerschaft der nationalistisch-populistischen Gruppierungen in Polen oder Ungarn summarisch für antidemokratisch zu erklären, doch haftet ihrer Rede vom Vorrang des Kampfes um nationale Unabhängigkeit stets ein Element des Autoritarismus an, der Geringschätzung von Selbstorganisation und demokratischen Verkehrsformen, oft auch des Antisemitismus. Zur Frage eines künftigen Europa und seiner „Werte“ haben wir bei Autoren dieser Richtungen nichts Nennenswertes gefunden.
Darüber hinaus hat unsere eigene Herkunft aus der radikalen politischen Linken und unser Engagement innerhalb einer blockübergreifenden Friedensbewegung bei der Wahl der Autoren eine Rolle gespielt. Allerdings sahen wir es als ganz unfruchtbar und im übrigen auch als ganz unmöglich an, in Ostmitteleuropa nach Gesinnungs- oder besser Leidensgenossen gegenwärtiger links-grün-demokratischer Auffassungen in der Bundesrepublik zu fahnden. Demgegenüber hat uns die Frage beschäftigt, wieso das Interesse an der demokratischen Opposition Ostmitteleuropas im Milieu der hiesigen Sozialisten/Sozialdemokraten bzw. Grün/Alternativen so gering ist. Diese Frage, für Anhänger konservativer Parteien allenfalls von politologischem Interesse, war und ist bei jedem unserer Gespräche mit ostmitteleuropäischen Demokraten präsent. Sie ist Ausdruck spezifischer Verständigungsbarrieren. Nach wie vor funktioniert im Verhältnis östlicher und westlicher Oppositionsgruppen die Falle gegenseitiger Zwangszuordnungen. Sehr schnell ist der demokratisch gesinnte Ostmitteleuropäer geneigt, westliche Friedensbewegte als Moskowiter abzustempeln, während umgekehrt der Ostler, der Zweifel an den guten Absichten der sowjetischen Führer äußert, den Hilfstruppen des USA-Imperialismus zugeordnet wird. Solche Schwierigkeiten wären nur von marginaler Bedeutung, wenn in ihnen nicht allgemeinere Probleme des Verhältnisses von Ostmitteleuropäern zu Westeuropäern aufscheinen würden.
Von zwei dieser Problemzonen soll nachfolgend die Rede sein. Die erste betrifft das Problem der nationalen Identität der ostmitteleuropäischen Staaten im Verhältnis zu Rußland bzw. zur Sowjetunion. Westlichen, speziell westdeutschen Intellektuellen sind Reflexionen zur nationalen Identität oft ein Greuel, die Forderung nach Selbstbestimmungsrecht der Nationen halten sie für historisch überholt, wenn nicht für gefährlich. Sie beargwöhnen die Hartnäckigkeit, mit der ostmitteleuropäische Intellektuelle die Eigenart ihrer Völker gegenüber der Gefahr der »Sowjetisierung« verteidigen. Überdies mutmaßen sie, daß die Insistenz, mit der in Ostmitteleuropa auf die kulturelle und politische Zugehörigkeit zum Westen hingewiesen wird, nur dazu dienen soll, die Sowjetunion aus dem europäischen Haus auszuschließen und damit den Prozeß der Entspannung zu stören. Bei dem zweiten Problem geht es um die bei uns weitverbreitete Kritik an der angeblichen Hypostasierung der politischen Freiheitsrechte durch die Osteuropäer, um deren Tendenz, Menschenrechte einseitig auszulegen und als abstrakt-moralisches Postulat dem jeweils Erreichbaren entgegenzusetzen. Folge dieser Haltung wäre die Unfähigkeit zur Politik. Umgekehrt lautet die Verdachtszuweisung, die westlichen Intellektuellen hätten den Blick dafür verloren, worin jenseits materieller Annehmlichkeiten die spezifischen, historisch gewachsenen Werte Europas lägen – sei es, weil sie im Sumpf des Hedonismus gelandet seien, sei es, weil sie nach wie vor utopistisch- totalitären Wunschträumen nachjagen würden. Beginnen wir mit einer Skizze des „Identitätsproblems“ und des Verhältnisses der drei ostmitteleuropäischen Staaten zu Rußland bzw. zur Sowjetunion.
Daß sich die Einwohner der drei ostmitteleuropäischen Staaten dem „Westen“ zugehörig fühlen, ist ein Gemeinplatz, der mehr verdeckt als aufklärt. Die von der Romantik inspirierten, nationalen Integrationsideologien wollten den ostmitteleuropäischen Nationen ihre besondere „Mission“ innerhalb des europäischen Entwicklungsweges erklären. Im Falle Polens waren die Aufstandsbewegungen des 19. Jahrhunderts von dem Gedanken beseelt, das Schicksal ihres geteilten Landes wiederhole das christliche Martyrium, die Freiheit Polens werde das Unterpfand der Freiheit aller unterdrückten Völker sein. In ihrer revolutionären, aber auch in ihrer konservativen Gestalt wurde Polen als antimurale christianitatis gegenüber dem Zarentum verstanden, das seinerseits den Freiheitskämpfern als tatarisch-byzantinischer Despotismus galt. In Böhmen hingegen knüpfte die nationale Erneuerungsbewegung an die plebejisch-demokratischen Elemente des Hussitentums an. Der Kampf um eine egalitäre Demokratie wurde – zuletzt bei Masaryk – als Bestandteil einer universellen Evolution interpretiert.[6]Das Verhältnis zu Rußland bzw. zum Slawentum war historisch unbelastet, teilweise sogar durch panslawistische Einflüsse positiv bestimmt. Im Falle Ungarns war der nationalen Befreiungsbewegung nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1848 durch den „Ausgleich“ von 1867 mit der Habsburgermonarchie die Spitze abgebrochen worden – die ungarische Aristokratie gelangte zusammen mit den deutsch-österreichischen Oberschichten zur Herrschaft. Der Mythos vom Staatswesen der heiligen Stephanskrone verblaßte.
Für die ganze Region galt, wie der ungarische Historiker J. Szücs[7]herausgearbeitet hat, daß sie zwischen dem westeuropäischen Entwicklungsweg und dem durch den überwältigenden Einfluß des Staates auf die Gesellschaft geprägten östlichen Entwicklungsweg schwankte. Alle drei Länder unterlagen der „zweiten Leibeigenschaft“. Während aber Böhmen nach dem Verlust seiner Führungsschichten sich zur industriell führenden Region der Donaumonarchie entwickelte, verhinderte gerade die fortdauernde ideologische und ökonomische Herrschaft der Grundbesitzer-Aristokratie in Polen und Ungarn den Durchbruch zur kapitalistischen Produktionsweise. Nach der Neugründung der ostmitteleuropäischen Nationen im Gefolge des Ersten Weltkrieges gehörten Ungarn und Polen zur ökonomischen Peripherie Europas, die Tschechoslowakei wurde zu einer ihrer fortgeschrittensten Zonen. Während in Ungarn und Polen autoritäre, strikt antikommunistische Regime die Macht ergriffen, wurde die Tschechoslowakei zu einer der wenigen stabilen parlamentarischen Demokratien. Aber gerade dieses Land mußte die traumatisierende Erfahrung machen, daß es von den „klassischen“ Nationen des Westens mit dem Münchner Abkommen dem deutschen Faschismus ausgeliefert wurde – während die Sowjetunion zu seiner Verteidigung bereitstand. Umgekehrt bestätigte der Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes die polnische Vision eines ewigen Freiheitskampfes gegen die teutonische wie gegen die russische Barbarei. Ungarn schließlich wurde von seiner herrschenden Klasse ein zweites Mal auf deutscher Seite in den Krieg gezwungen, um nach 1945 ein zweites Mal die Folgen der Niederlage zu tragen.
Es gehört zu den Paradoxien der ostmitteleuropäischen Geschichte, daß gerade die Katastrophen des Zweiten Weltkrieges den Nationen der Region die Chance eines stabilen Entwicklungsweges eröffneten. Hitlers Ausrottungspolitik, die Verschiebung der Grenzen und die Umsiedlung bzw. Ausweisung von Minoritäten hatten zu ethnisch einheitlichen Staatsgebilden geführt, tiefgreifende soziale Umgestaltungen wurden selbst von den nichtkommunistischen Mehrheiten befürwortet. Vor allem in der Tschechoslowakei wurde der Gedanke verfolgt, das Land könne ökonomisch und politisch zu einer Brücke zwischen den westlichen Demokratien und der Sowjetunion werden. Ob nun solche Ideen und Projekte eine historische Chance hatten oder nicht – die Uniformierung der ostmitteleuropäischen Gesellschaften nach sowjetischem Muster erstickte sie vorerst. Vorerst – denn in der ungarischen Revolution von 1956 wurden die Umrisse einer Synthese zwischen den parlamentarisch-demokratischen Traditionen des Westens und einer Rätebewegung sichtbar, die die etatistisch-totalitären Strukturen vergesellschaften wollte. Wenngleich die reformkommunistischen Versuche der fünfziger Jahre in Polen und der sechziger Jahre in der Tschechoslowakei am Machtmonopol des Partei-Staates festhielten, auch sie offenbarten Versuche, liberale und rechtsstaatliche „westliche“ Elemente in den Plan-Staat sowjetischen Typus zu integrieren. Im Prager Frühling 1968 verbanden sich aufs neue Überlegungen zum Aufbau einer eigenständigen sozialistischen Gesellschaft mit der alten Frage, welchen Platz Böhmen und die Slowakei in Europa einnehmen, wodurch sie sich als Nationen legitimieren könnten – kurz, die Frage nach ihrer nationalen Identität. Damals hat Karel Kosik[8], an Masaryk anknüpfend, die abstrakte kommunistische Zukunftsorientierung verworfen und die Idee der wissenschaftlich-technischen Revolution in ihrer kapitalistischen wie sozialistischen Ausprägung als Fetisch entlarvt. Ein Konzept radikaler Demokratisierung und Selbstverwaltung sollte die Kraft freisetzen für die Bewältigung des gegenwärtigen Daseins. In der Außenpolitik wurde von Hajek und seinen Freunden die Idee lanciert, von der bipolaren Weitsicht zur Anerkennung der Multipolarität fortzuschreiten und – bei vorläufiger Beibehaltung des Bündnisses – durch Kooperation die Spaltung des Kontinents schrittweise aufzuheben. Die sowjetische Intervention zerstörte nicht nur den letzten Versuch einer Staat und Gesellschaft gleichermaßen umfassenden, von einem Konsens der Herrschenden wie der Beherrschten getragenen Erneuerung und europäischen Standortbestimmung. Nach den Ungarn und Polen brachten der Überfall und die Besatzung auch Tschechen und Slowaken in einen intransigenten Gegensatz zur Sowjetunion.
Man muß sich die »Normalisierungspolitik« nach der Besetzung der CSSR, die Doktrin der beschränkten Souveränität sozialistischer Länder und die imperialistischen Züge der sowjetischen Außenpolitik der siebziger Jahre ins Gedächtnis zurückrufen, um die anfängliche Skepsis zu verstehen, die der ersten Phase der Entspannungspolitik in Ostmitteleuropa entgegenschlug. Vielen galt die Sowjetunion als in jeder Hinsicht rückständiges Land, beherrscht von einer pseudo-rationalen, antiaufklärerischen Ideologie, stark nur durch ihre gigantische Militärmaschine, der allein sie ihr Überleben verdanke und die sie – mit innerer Notwendigkeit – immer mehr zum Instrument ihrer Außenpolitik machen werde. In der Analyse der Sowjetunion tauchten wieder jene Konstanten auf, die schon im 19. Jahrhundert das antizaristische Denken von den polnischen Romantikern über Tocqueville bis Marx bestimmt hatten. Das kommunistische Rußland wurde wesentlich als Fortsetzung des zaristischen begriffen. Im Zentrum der Analyse stand die nur rudimentäre Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft in Rußland, der Mangel an unabhängigen Institutionen und einer kritischen Öffentlichkeit gegenüber dem allmächtigen Unternehmer und Unterdrücker Staat, dem die Untertanen sich stets unterworfen hatten. Größenwahn, Korruption und Ineffizienz der realsozialistischen Bürokraten Ostmitteleuropas, kurz das Regime der kollektiven Verantwortungslosigkeit wurde in dieser Perspektive zum Exportprodukt der sowjetischen Staatssklaverei, zum Gegentypus der rationalen, rechenhaften Verwaltungstätigkeit, wie sie nach Max Weber im Westen herrscht. Gegen diese Interpretation wandten sich jene Vertreter der russischen Emigration wie Solschenizyn, die den sowjetischen Kommunismus als wesentlich westliches Produkt kennzeichneten, das sich nur nach der Zerstörung der (sowieso schon geschwächten) christlichen Grundlagen der russischen Kultur habe durchsetzen können. Diese Polemik war für viele Oppositionelle Ostmitteleuropas nur der Beweis, daß selbst wichtige Kräfte der russischen Emigration der antiwestlichen Vision vom dritten Rom anhingen, mithin im Keim anti-demokratisch seien.
Der historisch-gesellschaftlichen Analyse gesellte sich die psychologische hinzu. Selbst ein so unabhängiger und nonkonformistischer Schriftsteller wie Czeslaw Milosz reproduziert in seinem Buch West-östliches Gelände nur das Stereotyp des haltlosen Russen, der, zwischen Erlösungssehnsucht und der Schlechtigkeit der Welt eingezwängt, jede Bösartigkeit begeht, um anschließend sein Opfer mit bitteren Tränen zu beweinen.[9]Kundera und Kazimierz Brandys[10]haben die große russische Literatur einer alles zermalmenden, die individuelle Autonomie zerstörenden Emotionalität geziehen. Bei Dostojewski sieht Kundera nur noch einen einzigen monströsen Angriff auf Vernunft und Aufklärung, unterfüttert von zügellosem panslawistischem russischem Nationalismus. Man muß diese Attacken mit André Gides Interpretationen, in denen die Radikalität Dostojewskis als Radikalität des Evangeliums, als christliche Freiheit für oder gegen Gott erscheint, vergleichen, um Kunderas Ausgrenzungswut zu ermessen. Bei Brandys schließlich steigert sich die völkerpsychologische Argumentation zum Gegensatz der schuldbeladenen und der schuldlosen Völker, zu welch letzteren er sein eigenes, das polnische zählt. So wird nationale Identität als Schuldgefängnis konstruiert, aus dem niemand entrinnen kann. Kein Zweifel, die genannten Autoren geben einer Haltung Ausdruck, die in der kollektiven Mentalität der ostmitteleuropäischen Völker verwurzelt ist. Aber gerade weil dies so ist, unterliegt diese Haltung auch der kritischen und selbstkritischen Reflexion jener Menschen und Gruppen innerhalb der entstehenden Zivilgesellschaften Ostmitteleuropas, die den europäischen Status quo samt seinen ideologischen Überformungen hinter sich lassen wollen. Schon Anfang der achtziger Jahre hat der polnische Literaturhistoriker Jan Józef Lipski in seinem Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen mit dem Stereotyp vom unschuldigen Opfer Polen gebrochen.[11]Indem er beispielsweise die simplen Fakten der Unterdrückung der ukrainischen und weißrussischen Volksteile in den Grenzen Polens ins Gedächtnis rief, stärkte er die Widerstandskraft gegen die nationalistische und militaristische Demagogie der realsozialistischen Machthaber. Im Zentrum seiner ethischen und politischen Reflexion stand der Gedanke, daß die ostmitteleuropäischen Völker nur gemeinsam mit den sowjetischen die Unterdrückung abschütteln könnten, wohingegen Fremdenhaß und nationaler Größenwahn Polen in eine selbstmörderische Isolation – auch und gerade gegenüber dem Westen – treiben würde. In jüngster Zeit hat der Historiker und Solidarnosc-Aktivist Adam Michnik diesen Gedanken wiederaufgenommen, als er die Beseitigung der historischen „weißen Flecken“ nicht als einseitige Anstrengung der sowjetischen Historiker, nicht nur als Wiedergutmachung der Sowjetunion gegenüber Polen verstanden wissen wollte.[12]Auch das durch den Schock von Claude Lanzmanns Shoah ausgelöste, sich jetzt vertiefende Interesse an der Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen bricht mit der Tabuisierung des polnischen Antisemitismus und befreit von dem hysterischen Zwang zur Identifikation mit dem Polentum.
Darüber hinaus ist in den anderen Ländern Ostmitteleuropas die Tendenz spürbar, von der selbstzufriedenen Opferrolle Abschied zu nehmen. Zwar fehlt es nach wie vor nicht an Propheten, die den laschen westlichen Europäern ihr baldiges bitteres Erwachen im unwandelbar expansiven sowjetischen Imperium voraussagen. Aber gerade unter den unabhängigen Intellektuellen mehren sich die Stimmen, denen es nicht nur um die Konstruktion einer Wertegemeinschaft gegenüber dem Totalitarismus geht, sondern um die Frage, was aus den glücklichen wie unglücklichen Erfahrungen der Völker in beiden Blöcken für ein neu zusammenwachsendes Europa gewonnen werden könne – einschließlich der Völker der europäischen Sowjetunion.
Wenden wir uns der anderen Problemzone des ost-westlichen Dialogs zu. Die Auseinandersetzung über die Menschenrechte und deren „Hierarchie“ zwischen ostmitteleuropäischen Demokraten und ihren westlichen Gesprächspartnern ist deshalb oft so effektbeladen und steril, weil die unterschiedlichen Lagen und Interessen nicht genügend reflektiert werden. Nach dem Niedergang des marxistischen Revisionismus der fünfziger und sechziger Jahre, der an der Idee des Sozialismus als einer der parlamentarischen Demokratie des Westens überlegenen, weil gesellschaftlichen Form der Demokratie festgehalten hatte, dominieren heute in der politischen Theorie der „östlichen“ Demokraten Anstrengungen, Freiheit und Demokratie als Wesenszüge gerade der europäischen Entwicklung zu interpretieren. Kolakowski begreift die westliche Zivilisation als Entfaltung einer im Menschsein verborgenen geistigen Energie, die sich alles überwindend Bahn bricht.[13]Kern dieser „Selbstoffenbarung“ ist die Person als einzige, unvergleichliche und einmalige Wirklichkeit. Jüdisch-christliche, antike, der Renaissance und der Aufklärung entstammende Überlieferungen fügen sich zu einem modernen Wertuniversum, das um die Idee der individuellen Freiheit kreist. Die Zentralität dieser Norm zu verneinen, heißt, die eigene Identität zu verleugnen. Die von Europa ausgegangenen barbarischen Untaten werden nach diesen Auffassungen als Gegenströmungen angesehen, als Gefährdungen, keinesfalls aber mit diesem Prozeß der Wertevolution notwendig zusammenhängend. Auf das politische Terrain bezogen sind für viele ostmitteleuropäische Demokraten Schritte der Entspannung und Abrüstung nur dann sinnvoll und die Sicherheit wirklich befördernd, wenn sie von einer Erweiterung der Freiheitsrechte und von Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Staatsmacht begleitet sind. Denn die Kriegsgefahr resultiert in letzter Instanz aus den inneren Verhältnissen der Staaten – wo die Machteliten unumschränkt walten können, sind der Militarisierung und der Anwendung von Gewalt nach Innen und Außen keine Grenzen gesetzt. Unfreiheit zieht Unfriedlichkeit nach sich.
Dieser Auffassung zufolge besteht kein Widerspruch zwischen dem universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte und einem Begriff europäischer Identität, der um die Idee der Freiheit gebildet ist. Universalisiert habe sich die Vorstellung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der rationalen Meisterung der Natur- und Gesellschaftsprozesse, das Bild des Homo faber. Hingegen sei das Postulat individueller Freiheit, wiewohl in den Menschenrechtskodifikationen weltweit anerkannt, in der Praxis auf den europäischen Kulturkreis beschränkt geblieben. Gerade weil Europa keine Welthegemonie mehr ausübe, nicht mehr dem Zwang zur Ideologisierung weltweiter Herrschaft und Unterdrückung unterliege, könne es zum Protagonisten des universellen Prinzips individueller Freiheit werden, d.h. auch weiter an den Institutionen und Garantien arbeiten, die historisch individuelle Freiheit überhaupt möglich gemacht haben. Die Insistenz, mit der östliche Demokraten auf dem Vorrang der Menschenrechte bestehen, erklärt sich überdies daraus, daß bislang nirgendwo im Realsozialismus eine garantierte Sphäre individueller Freiheiten gegenüber dem Partei-Staat existiert. Die Zusammensetzung der höheren Gerichte gehört zum Kernbestand der Nomenklatura, Instruktionen von Regierung oder oberstem Gericht stimmen die Richter bei politischen Verfahren ein, wo nicht direkt zum Telephonapparat gegriffen wird. In keinem ostmitteleuropäischen Land wird kritische Berichterstattung über Polizei und Geheimdienste zugelassen, wie es überhaupt keine Form demokratischer Kontrolle dieser Institutionen gibt. Extensive politische Straftatbestände, oft bewehrt mit massiven Strafdrohungen, sind weiterhin Bestandteil der Gesetzbücher. Trotz der Existenz mehr oder weniger vollständiger Grundrechtskataloge in den Verfassungen gibt es keine juristischen Handhaben, Staatsorgane wegen Grundrechtsverletzungen haftbar zu machen. Wo demokratische Rechte eingeräumt werden – wie z.B. Freizügigkeit bei Auslandsreisen -, existieren nach wie vor Wohlverhaltensklauseln, von der feudalen Landesvater-Mentalität im „Ausreiserecht“ der DDR gar nicht zu reden. Es ist gerade die widerspruchsvolle, inkonsequente Lockerung des Unterdrückungssystems in den ostmitteleuropäischen Staaten, die die weiterbestehende quasi-feudale Unterdrückungsstruktur besonders unerträglich macht. In dieser Hinsicht ähnelt die Situation den letzten Tagen des Ancien Régime.
Vor diesem Hintergrund wird verstehbar, warum viele ostmitteleuropäische Intellektuelle, die in Untergrundverlagen publizieren, demokratischen Klubs oder Initiativen angehören, oft sogar ungehindert reisen können, dennoch nicht zögern, die realsozialistischen Regime als totalitär zu bezeichnen. Sie wollen damit auf die weiterexistierende grundlegende Struktur des Partei-Staats – das Monopol der Machtausübung – hinweisen, unabhängig davon, welches Ausmaß an faktischem Pluralismus, an Unabhängigkeit der Gesellschaft gegenüber dem Staat tatsächlich bereits besteht. Die Konzentration auf staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten führt zu der häufig vertretenen Auffassung, die klassische Einteilung politischer Parteien und Programme nach dem Schema von „links“ und „rechts“ sei zumindest für realsozialistische Länder obsolet. Erst die Existenz eines gesicherten Freiheitsraums – so lautet das Argument – mache den Wettstreit unterschiedlicher gesellschaftlicher Projekte möglich. Gleichlaufend mit dem in der Gesellschaft sich faktisch entwickelnden Pluralismus tauchen aber in Ostmitteleuropa politische Positionen auf, die sich sehr wohl dem traditionellen Links/Rechts-Schema einordnen lassen. In den Diskussionen über die Wirtschaftsreform etwa polarisieren sich die Ansichten nicht am alten Gegensatz von Plan kontra Marktwirtschaft – über die Etablierung von Marktbeziehungen herrscht Einigkeit, insofern ist die Situation gewandelt. Der Streit entzündet sich vielmehr an der Haltung zur Arbeiterselbstverwaltung, an der Frage der Notwendigkeit grundlegender demokratischer Entscheidungen über die Entwicklungsrichtung der Ökonomie, am Streit über das Ausmaß von Schutzmaßnahmen für die Schwächsten in der Gesellschaft – alles Themen, die zwischen dem konservativen und progressiven Lager seit jeher umstritten sind. Aber diese Auseinandersetzungen haben bislang nirgendwo den Konsens zerstört, die individuelle Freiheit als das gemeinsame höchste Gut anzusehen. Der von befreundeten Intellektuellen des Westens oft erhobene Vorwurf, die Ostmitteleuropäer würden mit ihrem Freiheitspathos die wirklichen Probleme des entwickelten Industriesystems verfehlen und Schimären nachjagen, löst deswegen beträchtliche Irritationen aus. In der Tat wurden bis vor kurzem die gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen, gegen den drohenden Atom- und Überwachungsstaat kämpfenden sozialen Bewegungen des Westens oft als luxurierende, aus Überfluß und Langeweile geborene Veranstaltungen abqualifiziert. Wo – wie im Osten – die herrschenden Eliten sich Allzuständigkeit anmaßen, wird ihnen logischerweise die politische Alleinverantwortung zugeschoben. Deshalb trifft der westliche Gedanke, der Umbau des Industriesystems erfordere auch eine veränderte Lebensweise des einzelnen, häufig auf taube Ohren. Wo chronische Versorgungsmängel, öffentliche Armut und die drohende Umweltkatastrophe das Bild bestimmen, wie in Ostmitteleuropa, wirkt die Kritik der Westler am Überfluß deplaziert, bleiben die Aufrufe zur Unterstützung der armen Zwei-Drittel-Welt ohne Widerhall. Wir selbst sind heute ein Land der Dritten Welt – so hört es etwa der westliche Reisende in Polen – und dabei sind wir doch Europäer. In der Tat: Ähnlich wie die Einwohner der Dritten Welt müssen die Ostmittel-und Osteuropäer heute die Folgen einer forcierten Industrialisierungspolitik tragen, ohne wenigstens eine Zeitlang die Vorzüge entwickelter Industriegesellschaften genossen zu haben. Für sie ist es daher naheliegend, das System der Unfreiheit als die Entwicklungsschranke anzusehen. Daß auch nach der Überwindung der jetzigen Herrschaftsverhältnisse die Länder Ostmitteleuropas vor dem Problem der Rückständigkeit, der „Peripherisierung“ stehen würden, wird nicht geleugnet, aber in der Demokratie wird die einzige Chance für die Lösung des Problems gesehen – und ist das eigentlich falsch gedacht?
Man trifft in Ostmitteleuropa im Milieu der demokratischen Oppositionellen oft auf ein sehr abstraktes Demokratieverständnis, das davon absieht, welche Klassen und sozialen Kräftekonstellationen den demokratischen Staat beherrschen. Das Denken klebt an den Institutionen der parlamentarischen Demokratie, nicht an der Dynamik sozialer Kämpfe. Aber ist der Vorwurf ostmitteleuropäischer Demokraten an westliche Linke, sie würden die demokratischen Institutionen und die Freiheitsgarantien des bürgerlichen Staates unterschätzen, wirklich aus der Luft gegriffen? Nichts regt die östlichen Demokraten so auf wie die beschwichtigende und selbstsichere Rede linker bzw. pazifistischer Besucher aus dem Westen, es gäbe eigentlich keinen Unterschied zwischen der politischen Unterdrückung in Ost und West. Sie sehen darin jene verhängnisvolle Geringschätzung demokratischer Institutionen und Freiheiten, die den kommunistischen Machteliten nach 1945 in Ostmitteleuropa bei der Errichtung ihrer tyrannischen Regimes noch zu einem guten Gewissen verhalf – fühlten sie sich doch als Baumeister einer „qualitativ höher stehenden Form der Demokratie“.
Betrachtet man das Bemühen ostmitteleuropäischer Demokraten, Politik moralisch – im Menschenrecht der Freiheit – zu fundieren, so ist es eigentlich verwunderlich, daß es in den achtziger Jahren zu jenem intensiven Dialog mit Gruppen der westlichen Friedensbewegung gekommen ist, von dem die zahlreichen gemeinsamen Seminare, Erklärungen und Aktionen zeugen. Konfrontierten sich doch anfänglich zwei unterschiedliche Grundpostulate – das des Lebens und das der Freiheit. Was veranlaßte beispielsweise einen christlichen Konservativen aus Prag, sich auf langwierige Auseinandersetzungen mit Auffassungen einzulassen, die ihm absurd erschienen, wo doch in Gestalt der westlichen Konservativen ein „natürlicher Verbündeter“ bereitstand? Es liegt uns fern, die Vielfalt und Dichte der tatsächlich bestehenden Beziehungen etwa zwischen den konservativ-katholischen Milieus in Ost und West zu leugnen. Dennoch bleibt die Tatsache eines Dialogs zwischen Kräften, die im Westen schwerlich zusammengefunden hätten. Eine Erklärung hierfür liegt in den Erfahrungen, die die ostmitteleuropäischen Demokraten nach der sowjetischen Intervention in der CSSR 1968 und ein zweites Mal nach der Proklamation des Kriegszustands in Polen 1981 machen mußten. Es wurde deutlich, daß das Festhalten am Status quo der Blockteilung in Europa oberster Glaubenssatz auch und gerade der Konservativen im Westen ist. Die politische Unterdrückung im Osten erwies sich nur als Rohmaterial einer triumphalistischen Propagandashow. Weder Besuche bei den armen, unterdrückten Verwandten noch Hilfsaktionen karitativer Natur konnten darüber hinwegtäuschen, daß die Konservativen demokratischen Bewegungen im Osten mißtrauten. Es zeigte sich, daß die Furcht vor Instabilität die eigentliche Triebfeder ihres (Nicht-)Handelns war. Wer engagierte sich für eine Politik jenseits von Jalta, vor allem für gemeinsame, praktische Aktionen mit dieser Zielsetzung im Westen, wenn nicht die kleinen Gruppen und Initiativen, die von pazifistischen, radikaldemokratischen und im weiten Sinne oppositionellen Vorstellungen geprägt waren?
Aber nicht nur die Ablehnung des europäischen Status quo fördert das Interesse vieler ostmitteleuropäischer Demokraten an der buntscheckigen Schar westlicher Dialog- und Friedensgruppen. Was sie eint, ist das Mißtrauen gegenüber der schmalspurigen Ethik eines Politikertyps, der in Großorganisationen sozialisiert wurde, die Ablehnung einer Realpolitik, die gerade das nicht tut, was im gegebenen Augenblick möglich wäre.
Für einen Demokraten wie Václav Havel etwa begründet sich das politische Engagement aus dem Gewissensentscheid, aus der Übernahme individueller Verantwortung, aus dem Versuch, „in der Wahrheit zu leben“ – und hierin ähneln ihm viele seiner linksalternativen westlichen Freunde.[14]Freilich läuft eine solche Haltung im Westen wie im Osten Gefahr, die notwendigen Einsichten und Instrumentarien des politischen Kampfes – und der ist immer auch ein Machtkampf – zu vernachlässigen. Darüber hinaus ist Opposition gegen die allgegenwärtige Lüge noch kein Unterpfand politischer Wahrheit, denn »das Gegenteil der Wahrheit hat zehntausend Gestalten und ein unbegrenztes Feld« (Montaigne).[15]Untersucht man aber die praktischen Ideen und Vorschläge, die gerade von denjenigen ostmitteleuropäischen Demokraten gemacht werden, die „in der Wahrheit leben wollen“, so ist ihr politischer Realismus evident. Freiheit ist stets auf das konkrete politische Gemeinwesen bezogen. Die Arbeit an Elementen einer Zivilgesellschaft, an der „parallelen Polis“ erfolgt nicht ohne Rückbezug auf die existierenden Machtstrukturen und deren Träger. In den Schriften von Intellektuellen, die Solidarność nahestehen, aber auch bei den Anhängern der Charta 77 ist der Versuch spürbar, den Hang zum Manichäertum, zum moralischen Blockdenken zu überwinden. Damit sollen die beträchtlichen Unterschiede im politischen Denken etwa der polnischen gegenüber der tschechoslowakischen Opposition nicht verwischt werden. Aber gerade in den Vorschlägen der Solidarność etwa zur „zweiten Etappe“ der Wirtschaftsreform zeigt sich ein in diesem Sinne konstruktives Vorgehen. Möglichkeiten des Kompromisses werden aufgewiesen (z.B. unabhängige Gewerkschaften auf Betriebsebene zuzulassen), gemeinsame Schritte vorgeschlagen. Ziel ist nicht die Katastrophe des realsozialistischen Systems, sondern vertragliche Beziehungen mit der Machtstruktur, die beiden Seiten die Möglichkeit weiterer Entwicklung sichern sollen. Der „Neue Evolutionismus“ (Michnik) beruht auf der Idee des Gesellschaftsvertrags, auf der allmählichen Zivilisierung der Machteliten, denen im schlimmsten Fall die frühzeitige Pensionierung droht.
Man hat den ostmitteleuropäischen Demokraten oft einen moralisierenden Utopismus vorgehalten, der sie unfähig zur Politik mache. Solche Tendenzen gab es und gibt es noch. Aber der Hauptstrom des Denkens ist – gerade unter dem Einfluß der sich zersetzenden schwarzen Utopie des Realsozialismus – antiutopisch, kritisch und auf konkrete gesellschaftliche Verhältnisse hinzielend. Ist die Vorstellung einer demokratischen Evolution und der Auflösung hegemonialer Beziehungen in Ost und West eine Utopie oder ein Ziel mittlerer Reichweite? Wir haben den Eindruck gewonnen, daß die in den letzten Jahren in Warschau, Prag und Budapest erarbeiteten Beurteilungen und Pläne zu Bausteinen einer Realpolitik werden könnten, die diesen Namen wirklich verdient. Die sowjetische Politik hat bis jetzt in den ostmitteleuropäischen Verhältnissen einen ihrer blinden Flecke. Die Vorherrschaft über diese Region gilt ihr als Garant eines Kräftegleichgewichts, das – wie könnte es anders sein – konservativ gefaßt ist. Nato und Warschauer Pakt in ihrer gegenwärtigen hegemonialen Struktur gelten als unverzichtbare Bestandteile der Stabilität. Wie lassen sich aber solche Maximen in Übereinstimmung bringen mit der Revision der Breschnew-Doktrin? Wie kann man seitens der Sowjetunion die vollständig unabhängige Entwicklung der ost- bzw. mitteleuropäischen Staaten anerkennen und gleichzeitig die These vertreten, die „sozialistische Gemeinschaft“ sei das Werk eines irreversiblen historischen Prozesses? Oder reduziert sich die sowjetische Hegemonialdoktrin schließlich auf die dürre These, das Kräftegleichgewicht des Status quo sei eben Realität – unabhängig davon, wie sich die Realität in den abhängigen Staaten entwickelt?
Viel produktive Gedankenarbeit ist bei uns im Westen auch nicht am Werk, wenn es darum geht, den nächsten und übernächsten Schritt beim Bau des europäischen Hauses zu bestimmen. Denn die Idee einer europäischen Einigung als Fernziel erlaubt ein bequemes Sich-Einrichten in EG-Verhältnissen. Die Meinungen über Ostmitteleuropa gehen bis zum Beweis des jeweiligen Gegenteils von fiktiven Stabilitätsvorstellungen aus, so z.B. Egon Bahrs Behauptung in seinem offenen Brief an Gorbatschow, die Völker Europas hätten sich an die Blockteilung des Kontinents mittlerweile gewöhnt. Realistisch wäre demgegenüber eine Sichtweise gewesen, die die Instabilität der ostmitteleuropäischen Region als Folge der Krise realsozialistischer Herrschaft zur Kenntnis nimmt und von daher Vorschläge zu ihrer Stabilisierung macht. Eben diese realistische Sichtweise zeichnet das Denken nicht weniger demokratischer Oppositioneller in Budapest, Prag und Warschau aus. Im Gegensatz zu dem bewußtlosen Konservativismus, der die Blockteilung Europas entgegen lautenden Beteuerungen zum Trotz für das nächste Menschenalter fortschreibt, werden in Ostmitteleuropa gangbare Schritte „Jenseits von Jalta“ diskutiert. Die häufige Bezugnahme auf die Schlußakte von Helsinki ist hierbei nicht nur taktischer Natur. Denn in Helsinki wurde der Zusammenhang von Sicherheitsfragen, Kooperationsprojekten und Durchsetzung der Menschenrechte ebenso statuiert wie das Recht gesellschaftlicher Initiativen, den Prozeß der Entspannung „von unten“ mitzugestalten bzw. zu kontrollieren. Der von Mitgliedern der Charta 77 im Juni 1988 lancierte Vorschlag, in Prag ein „Helsinki-Parlament“ unabhängiger Gruppierungen aus ganz Europa einzuberufen, ist die jüngste Frucht solcher Überlegungen.
Damit ist noch einmal der Begründungszusammenhang umrissen, dem folgend wir diese Aufsatzsammlung zusammenstellten. Wir haben nur Autoren um ihre Mitarbeit gebeten, die in Ostmitteleuropa leben. Selbstverständlich sind wir nicht der Auffassung, daß die Arbeiten von Emigranten zum Thema Europa, seiner „Werte“ und seiner Zukunft irrelevant wären – das Gegenteil ist der Fall. Uns kam es aber darauf an, Autoren zu Wort kommen zu lassen, deren Urteil sich in tagtäglicher Auseinandersetzung mit dem Realsozialismus gebildet hat und deren Werk von der Zusammenarbeit demokratischer Oppositionsgruppen in den jeweiligen Ländern Zeugnis ablegt. Mit Ausnahme des Aufsatzes von Jan Strzelecki, der 1981 in dem in Rom herausgegebenen Sammelband The Common Roots of the European Nations erschien, sind die Beiträge aller anderen Autoren für diesen Band verfaßt worden. Die Diskussionsbeiträge von Janos Kis und Csaba G. Kiss wurden im November 1987 auf dem vom „Europäischen Netzwerk für den Ost-West-Dialog“ veranstalteten Seminar über „Gorbatschows Reform und Europäische Perspektiven“ gehalten. Sie, wie auch Bronislaw Geremeks Intervention auf dem 1987 von der polnischen Gruppe „Wolność i Pokój“ in Warschau veranstalteten Seminar „Frieden und Menschenrechte“, werden hier erstmals veröffentlicht.
Der Entstehensprozeß dieser Aufsatzsammlung war sehr zeitraubend und mühselig. Er umfaßt den Zeitraum von 1984 bis 1988. Das Thema, die »Verortung« der ostmitteleuropäischen Staaten und Gesellschaften im realen, aber auch in einem imaginären Europa, veranlaßte die Autoren zu Reflexionen, die den Horizont aktueller Politik überschritten. Die Evolution der Perestrojka kann in den verschiedenen Beiträgen verfolgt werden, die sich überstürzenden „Ereignisse“ seit Oktober letzten Jahres in Polen und Ungarn konnten indes keinen Niederschlag mehr finden. Dieser Mangel enthält aber den möglichen Vorzug, die Aufmerksamkeit auf Strukturprobleme der ostmitteleuropäischen Region und auf längerfristig wirkende Tendenzen in den Wertvorstellungen und Mentalitäten zu lenken. Dies zu bewirken, lag durchaus in der Absicht der Autoren.
Wer sind diese Autoren? Wie sind sie „einzuordnen“?
Wir haben diese Sammlung mit einem Beitrag des weltberühmten Dramatikers Václav Havels eröffnet, der den Problemen eines ost-westlichen Dialogs gewidmet ist. Havel gehört zu den Künstlern und Denkern, die das Herrschaftssystem des realen Sozialismus als Ausdruck einer globalen Bedrohung interpretieren, die auch die westlichen Industriegesellschaften heimsucht. In dem Beitrag Havels geht es um die Gefährdung der „Lebenswelt“, des Reichs der Gefühle, der Ästhetik, der Glaubens- und Wertvorstellungen durch die verstaatlichte Gesellschaft, durch die Herrschaft der Medien Macht und Geld einerseits, durch den Rückzug des Individuellen auf das bloß Psychologische andererseits. Der tschechische Philosoph Václav Belohradsky, dem Havel verpflichtet ist, hat diesen Prozeß als „Banalisierung“ beschrieben. Die „Solidarität der Erschütterten“ (Patocka) kann dieser Banalisierung des Daseins widerstehen, sie öffnet den Weg für die Bildung von Freundeskreisen, informellen Arbeitszusammenhängen, für eine Öffentlichkeit der „parallelen Polis“, die den Kern einer Zivilgesellschaft bildet. Havel, der in seinem Versuch, in der Wahrheit zu leben und in seinen Briefen an Olga die Idee der Verantwortung und der Sorge um den „Anderen“ herausgearbeitet hat, steht mit seiner Person für diese Verantwortung ein. 1977 wurde er, nachdem er die Funktion eines Chartasprechers übernommen hatte, zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. 1978 und 1979 erneut verhaftet und diesmal zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt, verbrachte er die Haft in dem berüchtigten Straflager Hermanice. Gegenwärtig verbüßt er erneut eine achtmonatige Gefängnishaft für das »Verbrechen«, Blumen zum Gedenken an Jan Palach niedergelegt zu haben, jenes Studenten, der sich vor 20 Jahren aus Protest gegen die sowjetische Okkupation selbst verbrannt hatte.
Wie Havel ist auch der protestantische Philosoph Ladislav Hejdánek tief von Jan Patocka, dem großen Denker und Humanisten in der Husserl-Nachfolge, beeinflußt. Sieht man von einem kurzen Intermezzo ab, war ihm nach seiner Habilitierung jede akademische Laufbahn versagt – so leitet er heute in Prag einen informellen philosophischen Zirkel, dem mehr als ein Aktivist der Bürgerrechtsbewegung angehört hat. Das politische Denken Hejdáneks steht in der Tradition Masaryks und seines Schülers Rádl, es begreift Demokratie als Lebensweise von ihren ethischen Prämissen her und verteidigt – jenseits alles bornierten Eurozentrismus – deren universelle Bedeutung. Hejdánek, einer der Pioniere des Ost-West-Dialogs, hat früh auf der Einheit des Kampfes für den Frieden und für die Menschenrechte insistiert.
Miroslav Kusý ist in der slowakischen Arbeiterbewegung groß geworden, war Professor und Sekretär im ZK der slowakischen Kommunistischen Partei bis zum endgültigen Sieg der „Normalisierer“. Seine – ins Deutsche nicht übertragenen – philosophischen Werke aus den sechziger Jahren trugen dazu bei, die pseudomarxistische Legitimationsdoktrin aufzulösen und dem Marxismus eine kritisch-revolutionäre Dimension zurückzugeben. Heute bestellt Kusý, der Ex-Reformkommunist, seinen Garten in Bratislava, verdient nach langen Jahren als Hilfsarbeiter sein Geld als Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften und bereichert – als einer der wenigen slowakischen Denker des demokratischen Sozialismus – die Samizdat-Literatur.
Sein Freund Milan Simecka stammt aus Ostrava, lebt seit vielen Jahren in Bratislava und war bis zum Berufsverbot Philosophiedozent. Simeckas Werk Die Erneuerung der Ordnung – leider nicht in deutscher Sprache erschienen – enthält eine eindringliche Analyse des Normalisierungsprozesses der siebziger Jahre, gleichzeitig eine Anatomie der Gesellschaft in der Tschechoslowakei. Simeckas politische Essays sind ironisch, selbstkritisch und entbehren jeglicher Bekehrungsabsicht. Sie sind dicht am Alltagsleben und voller Zuneigung zu den „einfachen Leuten“. Simecka ist stets auf der Suche nach einem konstruktiven Ausweg aus der Misere der realsozialistischen Gesellschaften. Über das Problem der „Sowjetisierung“ und des Verhältnisses der Sowjetunion zu Europa hat er mit Mihaly Vajda eine spannende Debatte geführt.[17]Sein Aufsatz schließt sich an diesen Themenkreis an.
Eines der schönsten Feuilletons Ludvík Vaculíks aus den siebziger Jahren behandelt Simeckas Winterschuhe. Vaculík ist der bewunderte Virtuose dieser in der tschechischen Literatur beliebten “kleinen Form“. In den sechziger Jahren gehörte er als Redakteur und Publizist zu den Protagonisten des „Prager Frühlings“. Sein Manifest der 2000 Worte, eine Unabhängigkeitserklärung der tschechischen Intelligenz, diente der sowjetischen Intervention als stereotype Begründung. Nach der Besatzung wurde Vaculik zum Organisator der Samizdat-“Edition Petlice“ (Hinter Schloß und Riegel), schrieb eine Reihe bedeutender Romane, darunter Tagträume von 1979, der von den Gefährdungen einer von der Gesellschaft isolierten oppositionellen Intelligenz handelt. Nach längerer politischer Abstinenz hat er sich mit der Unterzeichnung des Manifests „Demokratie für Alle“ der „Bewegung für bürgerliche Freiheiten“ (HOS) im Oktober 1988 wieder in die Politik „eingemischt“.
Im Gegensatz zu den tschechischen und slowakischen Autoren dieses Bandes, die bei allen Unterschieden ihrer gegenwärtigen politischen Positionen gemeinsame Wurzeln in der plebejisch demokratischen „hussitischen“ Tradition haben, gehören die Autoren der polnischen Beiträge ganz unterschiedlichen geistigen Familien an.
Mit seinem Les Marginaux parisiens aux XIVe et XVe siècles sowie weiteren sozialhistorischen Arbeiten zur Geschichte der Randgruppen, der Armut und des »Armenwesens« hatte Bronislaw Geremek seinen europäischen Ruf als Sozialhistoriker begründet, ehe er zu einem der Hauptberater der Gewerkschaft Solidarnosc wurde. Das Programm der Solidarność von Oktober 1981 trägt wesentlich seine Handschrift, gegenwärtig ist er bei den Verhandlungen des runden Tisches für die demokratische Reform zuständig. Geremek gehört der „gemäßigten“ Strömung innerhalb von Solidarność an, die einen – zeitweiligen – Ausgleich mit der Machtelite für möglich hält.
Im Gegensatz zu dem allseits beliebten Geremek zieht es Jadwiga Staniszkis vor, die Gemüter zu polarisieren. Mit ihren schroffen Angriffen auf das dichotomische, zur politischen Ohnmacht verurteilende Weltbild vieler Solidarność-Aktivisten machte sie sich in der Gewerkschaft unbeliebt. Die Herrschenden wiederum verbitterte sie durch ihre Analyse des Realsozialismus als einer inerten, despotischen Herrschaftsform. Nach langen Jahren des Berufsverbots wurde sie 1987 zur Dozentin ernannt. Der für diesen Band geschriebene Aufsatz gehört einem Themenkreis an, den Jadwiga Staniszkis in ihrer Ontology of Socialism weiter entwickelt.
Marcin Król, Philosoph, Historiker und Publizist, langjähriger Schüler Leszek Kolakowskis, ist ein Liberal-Konservativer, kritisch gegenüber den Ideen der Selbstverwaltung, die noch das Programm von Solidarność beherrschten, aber auch kritisch gegenüber den liberalen Theorien, deren Wertblindheit er beklagt. Król und die von ihm begründete – mittlerweile legale – Zeitschrift Res Publica sind erbitterte Gegner des politischen Fundamentalismus. Król plädiert für die Kunst des Politischen und – bei prinzipieller Gegnerschaft zum Sozialismus und dem angeblich geopolitisch notwendigen Bündnis mit der Sowjetunion – für Kompromisse mit der Staatsmacht.
Ist Król Realpolitiker par excellence, so ist Jan Józef Lipski ebenso konsequenter Moralist, eine der großen Gestalten der nonkonformistischen Linken im Nachkriegspolen. Als antifaschistischer Widerstandskämpfer in der Heimatarmee (AK) war Lipski in den fünfziger Jahren Protagonist des »polnischen Oktober«, in den siebziger Jahren Mitbegründer des Komitees für die Verteidigung der Arbeiter (KSS/KOR), dessen Geschichte er eine Monographie widmete. Mit seinem Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen griff Lipski frontal einige Lebenslügen des polnischen Nationalismus an, was ihm – nicht nur seitens des Regimes – den Vorwurf des Vaterlandsverrats eintrug. Auch in dem hier vorliegenden Beitrag finden sich Ansichten, die keineswegs auf allgemeine Billigung in Polen stoßen dürften.
Wie Lipski war Jan Strzelecki ein Vertreter der demokratischen Linken, wie er kämpfte er im Untergrund gegen die deutsche Okkupation. Strzelecki war Schüler und Freund des Soziologen Ossowski. Sein ethischer Sozialismus, der sich mit Elementen des katholischen Personalismus verband, verfiel nach 1948 der Verurteilung. Die Tagebücher Strzeleckis und seine Proben eines Zeugnisses (Próby świadectwa) – beide bislang nicht ins Deutsche übertragen – übten starken Einfluß auf die Herausbildung der demokratischen Opposition im Polen der siebziger Jahre aus. Strzelecki widmete sich der Arbeiterbildung, war Berater von Solidarność und mit den Vertretern der katholischen Sozialtheologie – darunter Jan Wojtyla – freundschaftlich verbunden. Im Sommer 1988 wurde Jan Strzelecki ermordet. Bis heute hat die polnische Polizei dieses schreckliche Verbrechen nicht aufgeklärt. Dieser Sammelband ist seinem Andenken gewidmet.
Die Ungarn János Kis und Mihály Vajda gehörten als Schüler von Agnes Heller der zweiten Generation der Lukács-Schüler oder „Lukács‘ Kindergarten“ – wie sie es selbstironisch nennen – an. Nach ihrem Bruch mit Lukács Anfang der siebziger Jahre entwickelten sie sich in einem schroffen Gegensatz zum Kommunismus und sind heute führende Köpfe der demokratischen Opposition. Während Kis vornehmlich die objektiven Bedingungen einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reform Osteuropas analysiert, betont Vajda die in der Geschichte Rußlands und im Sowjetkommunismus angelegten strukturellen Hemmnisse einer demokratischen Erneuerung der Gesellschaften des „Ostblocks“.
Györgi Konrád, als Romancier in dem der Literatur zugetanen Ungarn von hoher Autorität, hat in seinem Roman Der Komplize die ungarische Nachkriegsgeschichte teils phantastisch, teils mit protokollarischer Akribie dargestellt. In seinem gemeinsam mit Ivan Szelenyi verfaßten großen Essay Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht legte er eine in Ostmitteleuropa heftig umstrittene Klassenanalyse vor. Geprägt vom jüdischen Bürgertum, steht Konrád in der Tradition der kosmopolitisch orientierten „Urbanisten“. Als Soziologe wie als Literat beschäftigte er sich vielfach mit der Kultur des Städtischen. Seit einem halben Jahrzehnt hat er durch zahlreiche, auch im Westen publizierte Essays das Nachdenken über „Mitteleuropa“ neu thematisiert und in den Zusammenhang einer demokratischen Neuordnung Europas jenseits der „Blocklogik von Jalta“ gestellt. Diskussionen mit ihm verdankt dieses Buch wichtige Anstöße.
Der Literaturhistoriker Csaba G. Kiss ist Mitglied des Demokratischen Forums, einer politischen Organisation, die sich die Verteidigung der kulturellen Identität Ungarns zum Anliegen gemacht hat. Kiss betont in diesem Zusammenhang die Kooperation der Völker und Nationen des ostmitteleuropäischen Raumes. In der mitteleuropäischen Situation des „Dazwischen“ sieht er jene Mentalität angelegt, die sich dem „Entweder-Oder“ verweigert und so zur Mittlerin zwischen West und Ost werden könnte.
Die Metapher vom „Gemeinsamen Europäischen Haus“ hat auch im Westen die Aufmerksamkeit wieder stärker auf das gesamte Europa gelenkt, ein Thema, das in den ostmitteleuropäischen Gesellschaften schon seit längerem lebhaft debattiert wird. Von der Vielgestaltigkeit der in diesem Kontext geäußerten Gedanken sollen die hier versammelten Essays einen Eindruck geben. Daß ihre Lektüre die Phantasie stimuliert, Europa jenseits des Status quo zu denken, wünschen wir uns.
Für Anregungen, Kritik und Unterstützung danken wir Ruth Henning.
Frankfurt / Köln 1989 Frank Herterich, Christian Semler
Anmerkungen[1] Milan Kundera, in: Kommune 7/1984. [2] Solidarność, Die polnische Gewerkschaft Solidarität in Dokumenten, Diskussionen und Beiträgen, hg. v. Barbara Büscher, Köln 1983.[3] Helga Hirsch, Bewegung für Demokratie und Unabhängigkeit in Polen 1976 bis 1980, München 1985.[4] György Konrád, Antipolitik, Frankfurt/M. 1985.[5] Siehe hierzu das Memorandum Das Helsinki-Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen, Berlin 1987, das von zahlreichen ostmitteleuropäischen Demokraten unterzeichnet wurde.[6] Zu Masaryk siehe: Jan Patocka, Der Versuch einer tschechischen Nationalphilosophie und sein Scheitern, in: Stunde namens Hoffnung, Almanach tschechischer Literatur 1968 bis 1978, Frankfurt 1978, S. 13 ff.[7] Jeno Szücs, Les trois Europes, Paris 1985.[8]Karel Kosik, Die Krise unserer Gegenwart, in: Nachrichten aus der CSSR, Frankfurt/M. 1968, S. 55ff.[9] Czeslaw Milosz, West und Östliches Gelände, Wien/Berlin o .J., S. 147 ff.[10] Kazimierz Brandys, Warschauer Tagebuch, Frankfurt/M. 1984.[11] Jan Józef Lipski, Zwei Vaterländer – zzwei Patriotismen, in: Gesellschaftliche Selbstverteidigung, Köln 1982, S. 55 ff.[12] Adam Michnik, Kampf um die Erinnerung, in: Die Zeit, Nr. 16/15. 5. 88, S. 17 f.[13]Leszek Kolakowski, Die Wiedergeburt des Abendlandes?, in: Europa – Horizonte der Hoffnung, hg. v. Franz König und Karl Rahner, Graz 1983, S. 75 ff.[14] Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Reinbek 1980.[15]Montaigne, Essais, Bd. 1, S. 56 der Pleiade-Ausgabe, zit. nach Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, München 1987, S. 84.[16] Adam Michnik, Die Perspektive der Opposition, eine Evolution der Freiheit, in: Gesellschaftliche Selbstverteidigung, a.a.O., S. 3 ff. [17] Milan Simecka, Noch eine Zivilisation? Eine andere Zivilisation?, in: Mitteleuropa – Traum oder Trauma, Bremen 1988, S. 65 ff.Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags
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