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Den Samba auf Karneval vertagt

■ Tristes Silvester auf der Sielwall-Kreuzung / Für die Lebenslustigen kein Tanz und für die Schaulustigen keine kaputten Fensterscheiben / Böller, Knaller und Nebelschwaden auf dem Vorkriegsschauplatz

Ein Krankenwagen mit Blaulicht bahnte sich kurz nach Neujahr den Weg über die Bremer Sielwallkreuzung. Betretene Blicke der zweihundert rumstehenden Silvester-Feierer und -Innen. Hatte diesmal auch das Geböllere und Geschieße der alternativen Oster-und Steintorschen höchstselbst mitten auf ihrer Kreuzung blutige Opfer gefordert? Kaputt geschossene Augen, zerfetzte Handstümpfe? Erleichterung machte sich breit, als der Krankenwagen Richtung Innenstadt entschwand. „Der fährt bestimmt zum Marktplatz“, hieß die

Schlußfolgerung, denn - so die unausgesprochene Begründung auf dem Marktplatz böllern und schießen die Spießer.

Seit vier Jahren treffen sich Nicht-SpießerInnen zu Silvester auf der Sielwallkreuzung. Von „Narrenfreiheit“, und „Tanz“, den Motti vergangener Jahre, war allerdings anno 88/89 nicht viel zu spüren. Auch gab es diesmal für all die Schaulustigen keine klirrenden Schaufensterscheiben und geplünderten Läden zu begucken - sensationsheischende Insignien der Jahreswende 87/88. Und vor allem: Es gab keine Mu

sik, keinen fetzigen Sambarhythmus, der das Geböllere - wenn auch nur zeitweise - übertönt hätte. Stattdessen gab es alternative Männer, die den indignierten Frauen in ihrer Begleitung die unromantische Geräuschkulisse zu erklären wußten: „Das ist hier eben wie im Krieg.“

Die Mitglieder der l5köpfigen Bremer Samba-Gruppe, sonst immer bei den alternativen Silvester-Feiern dabei, hatten es diesmal zum überwältigenden Teil vorgezogen zu verreisen. Bernd Korten, einer der wenigen daheim in Bremen gebliebenen

Samba-Musiker-Innen: „Nach dem letzten Silvester stand fest: Das ist nicht unser Ding. - Ohne daß wir das abgesprochen hatten, war deshalb diesmal klar, daß niemand Lust hatte, sich in dem Konflikt zerreiben zu lassen. Weder können wir jubeln, wenn beim Plündern die Post abgeht, noch können wir uns freuen, wenn nichts passiert. Wir hatten keine Lust, uns als Stimmungsmacher für eine der beiden Seiten einplanen zu lassen.“ Und solche Pläne hatte es bereits gegeben - so den Vorschlag, die Samba-Gruppe solle im Falle von Ausschreitun

gen Richtung Osterdeich ziehen und den Menschenauflauf auf der Kreuzung entzerren.

Eine halbe Stunde nach Mitternacht war die Sielwall -Kreuzung in dichte Nebelschwaden gehüllt. Nicht nur der kleine blonde Junge, der abwechselnd mit Pistole und Gewehr Luft in die Menge ballerte, ließ sich dadurch absolut nicht stören.

Aber wer immer noch Lust hat, auf den Straßen zu tanzen, sei auf Februar vertröstet: Dann ist Karneval, und dafür proben sämtliche Bremer Sambagruppen seit Wochen. B.D

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