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Gesamtkunstwerk der Zehntausend

■ Die Jubelparade - das eigentliche, einzige Wahlereignis

Drachen, Monster, blauer Himmel: Die Pappnasenprinzessin warf Bonbons in die jubelnde Menge; das pensionsberechtigte Balkonberlinerehepaar winkte auf die Straße hinunter; aktentaschentragende Passanten blieben lächelnd auf dem Bürgersteig stehen, und ein etwa acht Jahre altes Mädchen fragte einen freundlich ausschauenden Polizisten, ob sie auch mitlaufen dürfe. „Wenn Du schon lesen kannst, klar!“ meinte der. Das nützte der Kleinen nicht viel, denn die JubelberlinerInnen präsentierten auf ihrer Parade am Samstag das endgültige, nicht nur weiße, sondern reine Transparent es stand nichts drauf: Dr. Kewenigs gesammeltes Schweigen.

Das Gesamtkunstwerk, an dem sich über zehntausend Artisten, Prinzessinnen, Präsidenten, Bösewichter, Helden, verzauberte Frösche, Feen, echte Polizisten und falsche Bullen beteiligten, manifestierte endgültig die Tradition des Karnevals an der Spree. Gestern, am Wahlsonntag, war Aschermittwoch, und am Samstag Rosenmontag. Die Jubelparade bildete den adäquaten Abschluß eines närrischen Wahlkampfes, wie ihn dumpfer die Kölner Jecken nicht hätten organisieren können. Völker der Welt; schaut auf das Grinsen dieses Bürgermeisters, der mit seiner Fratze die Stadt zukleisterte, schaut auf dieses fette, feiste Ehepaar im Bett, das verkohlten Toast und viel zu weiche Eier in sich reinstopft, um hernach den Joghurtlöffel abzugeben, und ihr werdet den Umzug der zehntausend als kollektives Sich-an-den Kopf-fassen zu interpretieren wissen; als flehenden Aufschrei a la „Oh Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!“. Der Herr aber warf nichts von der Wolke; also wurde das Konterfei Diepgens, an bunten, gasgefüllten Luftballons befestigt, zum Mond geschossen. Zehntausend erleichterte Mienen blickten in das strahlende Azurblau heroben, ein paar Tauben zogen ihre Bahn, und die regierende Pappnase wurde kleiner und kleiner. Irgendwelche unverbesserlichen Ost-Agenten stimmten Meister der Realsatire - sogleich die Internationale an, wurden aber von mit Trillerpfeifen ausgerüsteten Vertretern karnevalistischer Basisgruppen übertönt.

„Egal, wie die Wahl ausgeht, mit uns muß jeder Senat rechnen!“ drohte abschließend ein Sprecher auf dem Platz vor dem Schöneberger Rathaus. Themen gibt es schließlich genug: Jubelpardaden für mehr Paarreimwerbung in den Berliner U -Bahnen; Protestmärsche gegen neue Lottoscheine, Kampfdemonstrationen für die längste Polonaise der Welt mit Gottlieb Wendehals an der Spitze. Aber die, die gab's ja schon. Bolle Alaaf!

CC Malzahn

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