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„ I C H W I L L L E B E N ! “

 ■  Gastkolumne von Jörg Machel

Es kommt nicht mehr häufig vor, daß unsere Kirche an der Lausitzer Straße bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Selbst Weihnachten ist das seit langem keine Selbstverständlichkeit mehr. Ein Drittel fährt zum elterlichen Tannenbaum, denn viele Kreuzberger sind sehr jung und leben nur auf Zeit hier. Bei einem weiteren Drittel mag zwar ein leichtes wehmütiges Sich-Erinnern aufkommen, aber hier ist man unsentimental, und so zeigen viele Konsequenz: wenn über das Jahr nicht, dann auch nicht an so einem Tage. Und unsere vielen türkischen Nachbarn zieht es ohnehin nicht in eine christliche Kirche.

Ein neues Ritual aber scheint eine Chance zu haben, alle Jahre wieder unsere Kirche zu füllen. Nach größeren Krawallen öffnen wir die Portale für diskutierwillige Gruppen und staunen über den Zulauf. Nach den Mai -Ereignissen 1987 fanden Gespräche mit der Polizei in unserer Ölberg-Kirche statt, und mehrmals traf man sich zum Kiezpalaver bei uns. Am Sonntag war es wieder soweit. Diesmal hat die AL in unsere Räume geladen, über den Frieden im Kiez zu reden, und es kamen viele. Mehr als unsere kleine Kirche fassen konnte. Es trafen sich Leute, die sonst wohl selten unter einem Dach zu finden sind, und alle redeten. Nicht immer miteinander, nicht immer in der gleichen Sprache, aber doch erstaunlich lange und in erstaunlich unverbrauchten Wendungen. Eines wurde für mich deutlich bei diesen Gesprächen. Von niemandem wurde nach mehr Sozialarbeitern gerufen. Diesmal ging es an die Wurzeln, die noch tiefer liegen. Daß soziales Elend da ist und daß daraus Wut entstehen kann, wußte jeder in der Runde. Dies war keine lange Auslassung mehr wert. Diesmal ging es um mehr. Es ging um ein grundsätzliches Mißtrauen gegen staatliche Hilfsmaßnahmen. Es ging darum, nicht mehr Objekt irgendwelcher Sozial- und Fürsorgemaßnahmen sein zu wollen. Die Gewalt auf unseren Straßen kann langfristig nicht durch Podiumsdiskussionen bewältigt werden. Die geladenen Kreuzberger haben das gestern augenfällig gemacht, indem sie ihre Stühle nach zweistündiger Diskussion einfach von der Rednertribüne abwendeten, um einen Kreis zu bilden.

Willis Schrei auf die Frage, was er denn eigentlich wolle, war: „Ich will leben, ich will leben, ich will leben! Ihr toten Fische!“ Wir als Gemeinde in Kreuzberg fragen uns, müssen uns fragen, ob wir nicht gerade an dieser Stelle versagt haben. Auch wir haben uns wohl zu sehr damit beschäftigt, soziale Hilfsmaßnahmen zu organisieren, und haben das viel weitergehende Fragen und Suchen vieler junger Menschen nicht ernst genug genommen. Klassische Bereiche kirchlicher Arbeit, die sich der Frage nach dem Sinn des Lebens stellen, sind viel stärker auch in Kreuzberg gefragt, als wir aufgrund unserer leeren Gottesdienste zu glauben geneigt sind. Wir werden in unseren Gemeinden nach Antworten auf grundlegende Lebensfragen zu suchen haben, die auch auf der Straße noch verstanden werden können. Doch über die Kirchen hinaus werden Menschen gebraucht, die nicht irgendein Parteiinteresse verkörpern oder zuständigkeitshalber als Krisenmanager auftreten, sondern Platz schaffen für „Leben“.

Jörg Machel ist Pfarrer der Ölberg-Gemeinde in Berlin -Kreuzberg, Lausitzer Straße 30

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