: Tausche Gulaschkommunismus gegen Thatcherismus
Ungarische und polnische Wirtschaftsreformer wollen in die EG, Marx und Ricardo werden verbannt / Eine Tagung über die Folgen des Binnenmarktes für Osteuropa ■ Von Friedhelm Wachs
Wenn es nach führenden Wirtschaftswissenschaftlern aus der UdSSR, aus Polen und aus Ungarn geht, die sich am letzten Wochenende in der Berliner Evangelischen Akademie mit westlichen Kollegen trafen, dann ist das sozialistische Wirtschaftssystem eher gestern als heute tot. Ohne auch nur noch eine Silbe an die vermeintlichen Vorzüge ihres Wirtschaftssystems zu verschwenden, wandten sich alle mit Vehemenz dem Kapitalismus und der Marktwirtschaft zu gleichgültig, wie sehr etwa in Ungarn der wirtschaftliche Kollaps droht. „Wir müssen im Prinzip den Thatcherismus bei uns einführen, zumindest in seinen Grundzügen, dann geht es dem Volk auch wieder gut“, behauptet Margit Racz vom Budapester Institut für Weltwirtschaft, „denn es ist doch eindeutig: Entweder man bleibt beim Stalinismus, oder man geht zum zweiten Modell über. Zwischenformen gibt es da nicht.“
Zurückhaltender, aber auch persönlicher, beschreibt es Genadi Sotejew. Der stellvertretende Direktor des Forschungsinstitutes der staatlichen Plankommission der Sowjetunion hat seiner Tochter einfach das Wirtschaftsstudium verboten. „Ich habe fünf Jahre meines Lebens mit Ricardo und Marx vergeudet. Für die reale Wirtschaft sind sie absolut bedeutungslos. Also, wenn wir unsere Jugend nicht von den schlechten Einflüssen trennen, dann kommen wir nie vorwärts, und deshalb habe ich auch persönlich einen Punkt gemacht. Jetzt studiert sie Informatik.“ Und der polnische Ökonomieprofessor Jerzy Kleer hält sogar den Beitritt Polens in die EG für zwingend, um die Probleme des Landes wirklich lösen zu können.
Der Zug rollt. Die Ökonomen der noch sozialistischen Länder haben Angst, daß sie mit der Bildung des westeuropäischen Binnenmarktes 1992 völlig den Anschluß verlieren. Während sich die DDR und Rumänien gegenüber Reformen noch taub stellen und die CSSR erst langsam in Gang kommt, befindet sich Bulgarien seit zwei Jahren in einer Art Dauerreform. Am spektakulärsten stürmen Polen und Ungarn voraus, von der Sowjetunion verfolgt. Der RGW als Organisation kommt dabei unter die Räder.
Die Widersprüche zwischen den Mitgliedsstaaten wachsen ständig. Erst kürzlich nannte Ungarns Starreformer und Politbüromitglied Imre Pozgay bei seinem Besuch in Bonn den RGW einen „stalinistischen Anachronismus“. Jerzy Kleer, der sich als Hochschullehrer lange mit dem RGW befaßt hat, kann Integration schon seit zwanzig Jahren nicht feststellen. Und seit Gorbatschow der Breschnew-Doktrin abgeschworen hat, die die Außenpolitik der kleineren RGW-Staaten sowjetischen Interessen unterwarf, ist an eine Integration auch für die Zukunft nicht mehr zu denken. Zu unterschiedlich seien die Reformen in den einzelnen Mitgliedsländern. Und bei Engpässen, in wirtschaftlichen und finanziellen Fragen, wende sich ohnehin seit Jahren jedes Land individuell nach Westen.
Wenn es hoch komme, werde der RGW vielleicht eine ähnliche Rolle bekommen wie die OECD im Westen, sieht Heinz Machowski vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die weitere Entwicklung voraus. Mit Blick auf die EG-Integration klingt das dramatisch. Dem Sog, den der große Binnenmarkt hervorrufen wird, steht auf östlicher Seite keine Wirtschaftsmacht gegenüber. Und dennoch haben die kleinen reformfreudigen RGW-Staaten vor dieser Entwicklung offensichtlich keine Angst.
Den Umgang mit großen Wirtschaftsmächten sind sie durch die Sowjetunion seit Jahrzehnten gewohnt. Auch hier haben es die kleinen osteuropäischen Staaten verstanden, die Vorteile zu nutzen. „Der Handel mit der Sowjetunion hat solange gut funktioniert, wie die Sowjetunion Rohstoffe grenzenlos liefern konnte und wir ihnen dafür Fertigwaren hingestellt haben. Doch das ist entgültig vorbei“, erklärt Margit Racz die Krise im Handel mit dem großen Bruder. Rohstoffimport und die Chance zur weitreichenden Industrialisierung seien für diesen intensiven Handel ausschlaggebend gewesen; jetzt seien andere Rohstoffe gefragt, besonders Know-how.
Und das kommt aus dem Westen. Das Personal der Berliner Industrie- und Handelskammer kann ein Lied davon singen. Täglich, seufzt Geschäftsführer Jörg Schlegel, säßen Delegationen und Einzelpersonen bei ihm und forderten kostenlose Hilfe. Hauptproblem sei das Marketing, die Ausbildung von Managern und die Frage, wie Ostwaren auf dem Westmarkt konkurrenzfähig werden. Mit der Lösung dieser Probleme wollen die Osteuropäer den Anschluß an die EG finden. Schon ist bei der IHK ein Ost-West-Kolleg im Gespräch, um diesem enormen Bedarf entgegenzukommen. Berlin soll sich als Schulungsort und Handelsdrehscheibe in dem wachsenden Ost-West-Geschäft betätigen, die gute Lage der Stadt nutzen. Und Berlin soll das Eingangstor zur EG werden.
Der neue Berliner Finanzsenator Norbert Meisner hält ein klares Engagement des Senats in diesem Bereich für zwingend nötig. Die Stadt habe es noch nicht einmal geschafft, sich eine vernünftige Position im Handel beider deutscher Staaten zu erarbeiten. „Es gibt auch keinen natürlichen Grund, warum etwa der Handel zwischen Belgien und der Volksrepublik Polen nun unbedingt ein Berliner Zwischenglied haben müßte.“ Er sieht sogar schwarz für die Stadt, wenn Berlin nicht wirklich ein Scharnier zwischen Ost und West wird. „Dann ist Berlin in Zukunft ein Gebiet am Rande eines großen Wirtschaftsgebietes und wird seine wirtschaftliche Entwicklung auch nur am Rande machen können.“
Diese Randlage hängt allerdings nicht allein von den Berliner Anstrengungen ab. Alle Wissenschaftler aus Ost und West waren sich einig, daß der EG-Binnenmarkt den Ost-West -Handel beeinträchtigen wird. Die Szenarien reichen im günstigsten Fall von normalen Absatzschwierigkeiten bei osteuropäischen Produkten, die in Konkurrenz zu Produkten aus den Südstaaten Europas stehen, bis zur völlig abgeschotteten „Festung Europa“. Die Abschottung gegenüber dem osteuropäischen Markt scheint allerdings nur wahrscheinlich, wenn der Reformprozeß gestoppt und die Perestroika in der Sowjetunion beendet wird.
Auch die anderen Varianten sind alles andere als rosig. Wahrscheinlich ist, daß die EG verstärkte Zoll-, Kontingent -, Standard- und Normenbarrieren schafft, um sich östliche Ware vom Hals zu halten. Zwar dürften solche Maßnahmen nur für eine Übergangszeit gelten, doch wer jetzt nicht mit weitreichenden Handelsabkommen versorgt ist, den werden die Restriktionen schwer treffen. Einzig Ungarn hat bisher einen Handelvertrag mit der EG abgeschlossen, der bis 1995 den Abbau aller Handelsbeschränkungen zusichert. Polen wird demnächst ähnlich günstige Konditionen erhalten. Anders dagegen die CSSR, die vor wenigen Wochen einen Handelsvertrag mit der EG unterzeichnet hat, der zwar wohlwollende Erklärungen, aber keine praktischen Bestimmungen enthält. Schon jetzt nutzt die EG ihre Macht, um Reformen zu unterstützen und zu belohnen.
Mit dem Abbau der technologischen Kluft durch Joint -ventures und die Schaffung einer annähernd gesamteuropäischen Infrastruktur will Jerzy Kleer den Anschluß halten. Daß die Westeuropäer daran kein sonderliches Interesse haben, ist den osteuropäischen Wissenschaftlern unverständlich. Denn wenn sich die Europäer zu lange zieren würden, könnte es auch noch andere Interessenten für eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit geben. Kleer: „Dann werden sich in unseren Ländern die Japaner und die anderen asiatischen Industrieländer engagieren. Wenn das passiert, hat die EG das Rennen um die riesigen Märkte im Osten verloren.“
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