: Böhme auf dem Roten Platz - ganz privat
■ Wahlwirksame Moskaureise mit vielen Fragezeichen
Sich unter einem guten 'Stern‘ sehend (der ihm vorgestern mit 53 Prozent Stimmenanteil die absolute Mehrheit in der Volkskammer prophezeite) -, wandelte Ibrahim Böhme ausschließlich privat (?) mit neunköpfigem Journalisten-Troß schon mal auf außenpolitischen Pfaden. Für drei Tage versuchte sich der Chef der DDR-SPD - wohl auch mit Blick auf den angestrebten Ministerpräsidentensessel - in Ostpolitik. Daß Gorbi & Genossen und mit ihnen nicht wenige Sowjetbürger nicht ohne Sorge auf den DDR-Wahlkampf schauen, ist sicher längst bekannt. Allzu forsche Reden einiger Wahlkämpfer und die unter dem Etikett „Vereinigung“ sich immer stärker anbahnende Ausweitung des NATO-Bündnisses bis zur Oder rufen dunkle Ahnungen und offene Befürchtungen hervor. Auch die Solidarnosc-Regierung in Polen will momentan über einen Abzug sowjetischer Truppen gar nicht erst verhandeln. Ursache dafür waren nicht zuletzt die unisono von SPD bis CSU vorgetragenen Bekenntnisse zur NATO -Vollmitgliedschaft Deutschlands, jeweils parteipolitisch garniert mit ein paar kosmetischen Dislozierungsvarianten fürs Militär. Gerade in dieser Frage wäre nun ein deutliches Zeichen der DDR-SPD wünschenswert gewesen, doch Ibrahim Böhme und sein Sicherheitsberater Dr. Walter Romberg hielten sich dazu sehr bedeckt. Als Gegenstück dazu dann viel Offenheit und „Volksnähe“ beim Fototermin auf dem Roten Platz. Doch: die gültige NATO-Strategie ist nach wie vor ein Konzept der offensiven „Vorne-Verteidigung“ - und wo VORN liegt, daran ließen NATO-Generale zu keiner Zeit Zweifel aufkommen. Auch die Milliarden-Modernisierung der Bundeswehr scheint die Veränderungen in Ost-Europa unbeschadet zu überstehen. Von SPD Ost wie West ist dazu wenig Widerrede zu vernehmen. Nach Gesprächen mit KPdSU-Politbüromitglied Jakowlew, den Gorbatschow-Beratern Falin und Achromejew sowie Außenminister Schewardnadse war dann zumindest von Walter Romberg zu hören, daß nach Ansicht der sowjetischen Gesprächspartner eine Vereinigung mit anschließender NATO -Mitgliedschaft Deutschlands die Balance in Europa und somit auch den Abrüstungsprozeß gefährde. Sein Kommentar: „Wir müssen uns nach anderen Lösungen umsehen“. Dafür bleibt nun wahrlich wenig Zeit.
Thomas Fülling
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