: Besser arm dran als Arm ab
■ Vom Nutzen des Leidens: Pastor Motschmann predigte über Hiobs Versuchungen
Bis heute dachte ich, volle Kirchen gäbe es nur zu Weihnachten ! Aber als ich um zehn Uhr die St. Martini Kirche betrat, mußte ich suchen, um noch einen leeren Platz zu finden, und schließlich saß ich etwas beengt zwischen zwei Gemeindemitgliedern. Auch wenn die ältere Dame beim Singen mit vielen Tönen Schwierigkeiten hatte, während der Herr mit der lauten Stimme voller Vibrato sogar zwischen den Strophen von einer Oktave zur anderen springen konnte beide sangen und beteten so intensiv, daß mir das schon fast ausgestorbene Wort „inbrünstig“ in den Sinn kam.
Und das genauso antiquarische „ehrwürdig“ paßte zu der Atmosphäre in dieser alten, reichen Kirche mit der schönen barocken Orgel und dem stattlichen, konservativen Pastor, der noch die rhetorische Kunst der Predigt beherrscht.
Im Rahmen eines Predigtzyklus hatte Motschmann den Gottesdienst unter das Motto „Auch das Leiden hat einen Sinn“ gestellt. Schon die Schriftlesung von der Versuchung Jesu durch den Teufel deutete auf den Mittelpunkt der Predigt hin: die Heimsuchungen Hiobs, die Geschichte seiner Frömmigkeit trotz großen Leidens. Motschmann holte die alttestamentarische Geschichte gleich zu Beginn der Predigt ins Diesseits, indem er auf Bloch, Jung und Goethe hinwies, die sich auch alle mit Hiob auseinandersetzten, da sein Beispiel eine existenzielle Frage berührt: „Wie gehe ich mit dem Leid in meinem Leben um ?“
Der Satan fügt dem frommen Hiob unerträgliches Leid an, um Gott zu beweisen, daß er vom Glauben ablassen wird: sein Besitz wird vernichtet, seine Kinder sterben, und „vom Fuß bis zum Scheitel ist er mit Geschwüren bedeckt“. Hiob widersteht diesen Anfechtungen, und für Motschmann ist dieses „bewußte Tragen von Leid“ wichtig für jeden Gläubigen, der sich sagen muß :„Gott läßt dies zu, also wird es Sinn haben, aber ich erkenne ihn jetzt noch nicht.“
Wenn Motschmann die Bibelworte ins Umgangsdeutsch übertrug, klang das etwas zu sehr nach Altbackenem: „Im heutigen Klassenkampfjargon wäre Hiob ein Kapitalist“ oder „Hiobs Kinder feierten gerne, heute würde man Parties dazu sagen“. Besser gelang Motschmann die Aktualisierung durch zeitgenößische Beispiele und Zitate. Das Buch von Martin Gray wird erwähnt, der das KZ überlebte, in den USA eine Blitzkarriere machte, nur um dann seine ganze Familie zu verlieren, und auch Einsteins Satz „Wer keinen Sinn mehr findet, ist kaum noch lebensfähig“ paßt genau. Das Gray und Einstein (genau wie Hiob, wenn man es genau nimmt) keine Christen sondern Juden waren erwähnte Motschmann allerdings nicht.
Wilfried Hippen
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