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„Einförmig und kleinstädtisch“

■ Ist Passion nicht von Bach, guckt kein Schwein

„Die beste Seite Bremens ist die Musik. Es wird in wenigen Städten Deutschlands so viel und so gut musiziert wie hier. Eine verhältnismäßig große Anzahl von Gesangvereinen hat sich gebildet, und die häufigen Konzerte sind immer stark besucht.„ Fast 150 Jahre ist es her, daß Friedrich Engels diese Sätze schrieb. Die Verhältnisse haben sich geändert: wäre Engels „Kollege“ Hanns Eisler lang genug am Leben geblieben (und hätte er diese Stadt gut gekannt), um seinen Plan, ein Buch „über die Dummheit in der Musik“ zu schreiben, dann wäre das „Bremer Konzertpublikum“ vermutlich mit einem eigenen Kapitel darin vertreten gewesen. Der regelmäßig um den Jahreswechsel stattfindende, triste Passions-, Requiems- und Messenrummel, immer wieder die bekannten Werke nudelnd, lockt noch die schlimmsten Leichen aus dem Keller, während wirklich interessante Angebote mit gähnender Trägheit beantwortet werden. In der St. Pauli Kirche hatte sich gerade eine Handvoll Menschen eingefunden, um die „Markus-Passion“ von Reinhard Keiser, komponiert 1712, zu hören. Während der Chor (Vokalensemble des Forums Alte Musik Bremen) ausgewogen und stimmig wirkte, hatten die Instrumentalisten zum Teil erhebliche Schwierigkeiten mit der mitteltönigen Stimmung, die lediglich die „Brauchbarkeit“ einiger weniger Tonarten zuläßt; lästiges Umstimmen und Verlust des Affektcharakters der jeweiligen Tonart sind die Folge. Historisch gesehen ist dieses Verfahren nicht einfach zu rechtfertigen,

weiß man doch, daß Keiser in enger Verbindung stand mit dem Hamburger Musiker Johann Mattheson - der eine umfassende Tonarten-Charakteristik vorlegte, die wahrscheinlich eben an Keisers Werken orientiert war. Ähnlich merkwürdig waren die langen Pausen zwischen den Wiederholungsteilen der Dacapo -Arien: Ob die Pausenzeichen tatsächlich wortwörtlich zu nehmen sind oder lediglich der entsprechenden Auffüllung des Taktes dienen und im übertragenden Sinne als „Atempausen“ zu verstehen sind, mag dahingestellt bleiben. Demgegenüber zeichnete sich der Vortrag der SolistInnen (Mona Spägele, Sopran und Meindert Zwart, Altus) gängig durch Textverständlichkeit aus. Manfred Cordes (Tenor), der die Aufführung leitete, und Wolfgang Czolbe (Baß) berücksichtigten die von Keiser so nachdrücklich geforderte dramatische Bedeutung der Rezitative: Sprachgestus und Akzentuierung waren präzise dem Text der Passion angeglichen. Daß die Aufführung eher einen sehr schlichten und spannungsarmen Eindruck hinterließ, ist auf zwei Gründe zurückzuführen. Einerseits war Keiser genuiner Opernkomponist, der nur selten Kirchenkompositionen verfaßte, zum anderen mag jene gähnend leere Kirche dafür verantwortlich sein, daß die Motivation der Musiker nicht gerade Höhenflüge unternahm. In diesem Sinne hat Engels doch noch Recht behalten, wenn er über Bremen schreibt: „im übrigen ist das hiesige Leben ziemlich einförmig und kleinstädtisch.„

H. Schmidt

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