: Vielstimmige Zukunft
■ Der DDR-Schriftstellerverband hat die wichtigen Entscheidungen noch vor sich
Auf dem außerordentlichen Kongreß des Schriftstellerverbandes der DDR hat sich eine Mehrheit der anwesenden SchriftstellerInnen gegen einen klaren Bruch mit der alten Macht und für den Versuch einer Reform ausgesprochen. Der Aufarbeitung der eigenen Verbandsgeschichte, die auch eine stalinistische Geschichte ist, stimmte zwar letztendlich eine Mehrheit zu, doch war diese Zustimmung nach so viel Warnungen vor damit verbundenen Gefahren, gar vor „neuen Lügen“, derart zögerlich erfolgt, daß das Abstimmungsergebnis dadurch realitiviert und entwertet wird. Dies gilt umso mehr, als Zusammensetzung und Arbeitsweise der erst seit kurzem tätigen Kommission auf eine Weise unklar blieben, daß durchaus die Möglichkeit besteht, der Auftrag und sein Gegenstand könnten oder sollten mit der Zeit in Vergessenheit geraten. Die Wahl von Rainer Kirsch zum neuen Vorsitzenden des Verbandes, der sich gegen einen Untersuchungsausschuß ausgesprochen hatte, erhärtet diese Vermutung. Eine eher durch große Spannung spürbare, als nach außen hin heftige Kontroverse zwischen Kirsch und seinem unterlegenen Gegenkandidaten, der jetzt immerhin als sein Stellvertreter fungiert, wurde zwar erstmal beigelegt, trotzdem enthalten diese konträren, von einer jeweiligen Anhängerschaft mitgetragenen Positionen aber weiterhin jede Menge Sprengstoff - und zwar für den gesamten Verband.
Die These, wonach die Übereinstimmung zwischen „dem Volk“ und „den Intellektuellen“ in der DDR nur vorübergehend war und seit dem 4. November eine Entfremdung stattgefunden hat, als „das Volk“ eine Art Revolution machte, während „die Intellektuellen“ eigentlich nur Reformen wollten, bestätigte sich auf dem Kongreß. Doch wie es scheint, sind auch die Intellektuellen keine homogene Gruppe. Ob die System -Reformer und die System-Veränderer in einem Schriftstellerverband bleiben werden, könnte sich schon bald entscheiden. Christa Wolf sagte ahnungsvoll: „Wir werden künftig nicht mehr mit einer Stimme sprechen.“ Weniger erschreckend als eine vielstimmige Zukunft scheint allerdings die „Einstimmigkeit“ der Vergangenheit, in der so viele gar keine Stimme hatten.
Anna Jonas
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