: Willy bemüht die historische Stunde
Der SPD-Ehrenvorsitzende Brandt auf Wahlkampfreise in der DDR / Erfurt und Weimar als erste Stationen / Euphorischer Empfang, frenetischer Beifall, andächtige Gesichter / Im Jahre 1970 stand der damalige Bundeskanzler schon einmal auf dem gleichen Balkon ■ Aus Erfurt Heide Platen
Rund 70.000 Menschen empfingen gestern Vormittag in Weimar den SPD-Ehrenvorsitzenden Willy Brandt mit frenetischem Beifall. „Ihre Stadt, das ist auch Goethe, Schiller, Luther und Bach, das gehört zu Deutschland“, sagte Brandt den ZuhörerInnen. Er sei nicht in erster Linie als Parteimensch in der DDR: „Erste Bürgerpflicht ist jetzt, füreinander einzustehen.“
70.000 waren es auch am Samstag abend auf dem Domplatz in Erfurt gewesen - in Kälte und Nieselregen weniger als erwartet. Aber, meinte Brandt dazu, „70.000 ist doch auch 'ne schöne Zahl“. Über die Regenschirme hinweg forderte er die DDRlerInnen auf, sich nicht ihr Selbstbewußtsein und ihr Land abkaufen zu lassen: „Der Zug zur Einheit rollt. Jetzt kommt es darauf an, daß niemand unter die Räder kommt.“ Die DDR habe immerhin einige Errungenschaften sozialer Gerechtigkeit zu bieten.
Brandt gab sich verhalten in der Kanzler-Schelte: „Wir bekämen die Unterstützung von keinem westlichen Land, wollten wir die polnische Westgrenze in Frage stellen.“ Der Weg zur Einheit sei kompliziert und ohne Europa, die UdSSR und die USA nicht zu gehen. Aber: „Irgendwann wollen wir ja auch mal wieder alleine sein.“ Und dann müsse die Frage eigener deutscher Streitkräfte geregelt sein. Er glaube nicht an eine deutsche Neutralität. Dazu sei ein wiedervereinigtes Deutschland „zu groß“, habe „zuviel Wirtschaftskraft“. Anschließend rief er die Wahlversammlung zum gemeinsamen Kampf gegen den Hunger in der Dritten Welt auf.
In einer Pressekonferenz am Abend gab sich Brandt nachdenklich. Fünf Punkte habe er ausgemacht, die den Schwung und die Euphorie in der DDR in den letzten Wochen gebremst hätten. Dazu gehöre wohl, daß die vollmundig angekündigten Veränderungen „vielen Menschen ein bißchen lange dauern“ sowie die wachsende Angst vor Arbeitslosigkeit, die Verunsicherung durch die westdeutsche Wahlkampfpropaganda und das Gefühl, zum „fünften Rad am Wagen“ der Bundesrepublik zu werden. DDR-SPD-Chef Ibrahim Böhme plädierte für die Rückkehr zu einem „sauberen Wahlkampf“: „DDR-Bürger glauben viel schneller, was ihnen gesagt wird.“
Der Empfang, den Erfurt Willy Brandt am Samstag mittag bereitet hatte, war allerdings euphorisch. Hinter der dünnen rot-weißen Plastikabsperrung standen die Menschen knüppeldick in den Gängen des Erfurter Bahnhofs, drängelten und riefen: „Willy! Willy!“ Was sie - vermutlich erstmals life - sehen konnten, war vor allem die harte Arm- und Beinarbeit internationaler Foto- und FernsehjournalistInnen. Und ab und zu mal im undurchdringlichen Kordon der Kameras ein kleines Fitzelchen des SPD-Ehren-Vorsitzenden.
Am Samstag morgen um 18.15Uhr waren die Sonderwagen der Bundesbahn, angekoppelt an einen regulären Interzonen-Zug, vom Frankfurter Hauptbahnhof gerollt. Und seither waberte die Historie durch die Waggons. Alle und jeder erinnerten sich: 19. März in Erfurt vor zwanzig Jahren. Auch damals fuhr Brandt in einem der Salonwagen der Reichsbahn - Baujahr 1936. Sogar der Kellner war derselbe. Die erste Etappe der Wahlkampfreise des „großen alten Mannes der SPD“ durch die DDR als Remake der jüngeren Geschichte. Da langte die Presseabteilung der SPD ebenso gründlich hin wie die vielfältig lautmalenden mitreisenden KollegInnen mit ihren Persiflagen auf den Kohl-Kanzler mit seiner bräsigen „Geschichte“. Willy Brandt ging einmal durch den Zug und sagte nur ein Wort, aber das war gewichtig: „Hallo!“
Das Fenster, das Fenster im zweiten Stock des Hotels „Erfurter Hof“, direkt gegenüber dem Bahnhof, sollte es also sein. Dort, aus dem Zimmer 249 heraus, hatte der damalige Bundeskanzler Brandt im März 1970 schon einmal auf eine „Willy! Willy!“ rufende Menschenmenge gesehen, als er sich auf seine Initiative - zum ersten Mal mit dem damaligen Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph zum Beginn deutsch -deutscher Verhandlungen traf.
Ein italienischer Fernsehmann, der auch damals dabei war, erinnert sich an ein gemischtes Publikum. Die einen brachen in Tränen der Begeisterung aus, die anderen beschimpften Willy Brandt als „Drecksack“. Brandt erinnerte sich bei seiner Rede vor allem an die Tränen, an die Verhaftungen Hilfesuchender durch den Staatssicherheitsdienst.
Seinerzeit hatte er den DDR-Offiziellen gesagt: „Keiner darf den anderen bevormunden wollen. Ich bin nicht hierher gekommen, um die Abschaffung irgendwelcher Bindungen der DDR oder irgendwelcher Gesellschaftsformen zu fordern.“ Diesmal entschuldigte er sich fast. Er habe damals gedacht: „Du darfst nicht irgendwas anheizen... Du fährst morgen wieder nach Bonn.“ - „Laß es sachte angehen“, habe er sich 1970 mit Blick auf die Menge gemahnt. Diesmal versicherte er in die gläubig und andächtig emporgewandten Gesichter der ErfurterInnen hinein, er wolle für sie ein „von der Ostsee bis zum Vogtland“ mit der Bundesrepublik „gleichberechtigtes Deutschland“ und endete mit den Worten: „Ich bin tief bewegt.“
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