: Unverständnis in Bonn
Die von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) erneut ausgelöste Diskussion um die polnische Westgrenze hat am Wochenende an Schärfe zugenommen und ernste Verstimmung beim Koalitionspartner FDP ausgelöst. Bundesaußenminister Genscher will in dieser Woche mit dem Kanzler zu diesem Thema ein Gespräch führen. Der Plan Kohls, eine deutsche Garantie für die Oder-Neiße-Linie von einer weiteren Verzichtserklärung Warschaus auf Kriegsentschädigung sowie vertraglichen Sicherheiten für die deutsche Minderheit in Polen abhängig zu machen, ist selbst bei CDU-Politikern auf Unverständnis gestoßen. Lediglich Kanzleramtsminister Seiters (CDU) verteidigte eindeutig die Polenpolitik Kohls.
Der „außenpolitische Scherbenhaufen Bonns“ hat sich nach Meinung der außenpolitischen Sprecherin der FDP, Hildegard Hamm-Brücher, durch die Verknüpfung einer Grenzgarantie mit einem erneuten Verzicht auf Reparationen - Polen hatte 1953 schriftlich eine entsprechende Erklärung abgegeben - um ein weiteres Stück vergrößert. Die FDP-Fraktionsvorsitzenden von Bund und Ländern erinnerten an die klare Aussage von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher zu einer endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze: Da gebe es „keinen Millimeter Bewegungsfreiheit“. Kohl, so FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff in der 'Welt‘, versuche sich aus einer „Zwickmühle, in die er sich selbst gebracht hat“, herauszumanövrieren. Die Deutschlandpolitik sei „Sache der Koalition“.
Als „völlig unangemessen und überflüssig“ bezeichnete der Parlamentarische Staatssekretär Ottfried Hennig (CDU) beim Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen die aufgeflammte Debatte. Der letzte Schlußstein im deutsch -polnischen Verhältnis könne erst von einem „gesamtdeutschen Souverän“ gesetzt werden. Der stellvertretende CDU -Vorsitzende Heiner Geißler forderte eine sofortige politische Willenserklärung zur Anerkennung der polnischen Westgrenze als grundlegende Voraussetzung für den europäischen Frieden und die deutsche Einheit.
Unverzügliche Klarheit verlangte der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt. Mit dem „Rumgeeiere“ des Kanzlers müsse jetzt Schluß sein, sagte Brandt am Samstag in Erfurt. Der Vorstoß Kohls sei „unsinnig und kein Zeichen für höchste staatsmännische Kunst“. Der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel hielt den Kohl-Plan für „abenteuerlich und unverantwortlich“. Die SPD wolle in dieser Woche einen Beschluß über die Abgabe wortgleicher Erklärungen beider deutscher Parlamente über eine Anerkennung der polnischen Westgrenze herbeiführen. Nach Ansicht der Grünen hat sich die Bundesregierung nun „unrettbar disqualifiziert.“ Kohl selbst habe „durch seine abstrusen Pirouetten bestätigt, daß die Polen mit ihrem Argwohn im Recht sind“, erklärte Helmut Lippelt.
Nach Auffassung von Kanzleramtsminister Seiters kann es dagegen „vernünftigerweise keinen Streit darüber geben, wenn der Kanzler jetzt auch eine Klarstellung zum Verzicht auf Reparationen sowie zu den Rechten der Deutschen in Polen vorschlägt“. Warschau hatte im Gegenzug die Entschädigung polnischer Zwangsarbeiter während des Dritten Reiches ins Gespräch gebracht.
Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Herbert Czaja, lehnte einen Verzicht auf die ehemaligen deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße als „Vorbedingung für die Wiedervereinigung“ ab. Bei einer entsprechenden Erklärung beider deutscher Parlamente werde zu prüfen sein, ob nicht das Bundesverfassungsgericht wegen Rechtsnachteilen für deutsche Staatsangehörige angerufen werden müsse.
In der DDR reagierten am Samstag der Vorsitzende der SPD, Ibrahim Böhme, und Wolfgang Schnur vom Demokratischen Aufbruch auf Kohls neuesten Vorschlag. Böhme nannte ihn „geschmacklos und einen eindeutigen Affront“ im Vorfeld der deutsch-deutschen Verhandlungen. Schnur fühlte sich offensichtlich verpflichtet, Kohl beizustehen. Zu den Vorwürfen, der Kanzler wolle sich um eine klare Stellungnahme herumdrücken, handele es sich um eine „böswillige Unterstellung ohne Berechtigung“. Kohl sei „ganz bestimmt keine Bedrohung für Polen“.
In Dänemark äußerte sich die konservative Partei des dänischen Ministerpräsidenten Poul Schlüter in scharfer Form. Parteisprecher Per Stig Möller: „Jetzt müssen die Freunde der Bundesrepublik Kanzler Kohl in aller Ruhe daran erinnern, daß Deutschland den 2.Weltkrieg angefangen und verloren hat...“ In den USA erklärte der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Senats, Claiborne Pell, eine Beendigung ihrer speziellen Rechte in Deutschland und Berlin sollten davon abhängig gemacht werden, daß ein vereinigtes Deutschland „unzweideutig anerkennt, daß alle seine gegenwärtigen Grenzen legal, dauerhaft und unveränderlich sind“. In der angesehenen 'Los Angeles Times‘ war Kohl als fetter Hitler abgebildet worden, der die rechte Hand zum Führergruß streckt.
dpa/ap/taz
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