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1.000 Velofreaks in Berlin unterwegs

■ Dritte Berliner Fahrraddemo / Diesmal für attraktiven Nahverkehr und umweltfreundliche Verkehrstarife

Der erste Sonntag des Monats scheint sich allmählich zum Kulttag der grünen Szene der Stadt zu entwickeln. Wieder zogen trotz des fahrradunfreundlichen Wetters weit über 1.000 Velofreaks vom Alex aus in langem Zug fröhlich klingelnd, hupend und rasselnd durch die Stadt. Viele kennt man schon: den mit der lautesten Klingel, das Mädchen mit der Losung „Bleifrei ins Jahr 2000“, die zwei mit der Gasmaske... An den Kreuzungen stauen sich die Autos, während die Fahrrad-Demonstranten schon mal für den großen Traum proben: die autofreie Zone zwischen Alex und Brandenburger Tor. „Nur noch U-Bahn, S-Bahn und Busse, und an den Bahnhöfen kann man für 20 Pfennig ein Fahrrad ausleihen“, schwärmt Thomas (27), ein leidenschaftlicher Cyklist. Daß das eine Utopie ist, weiß er auch. Doch Utopien sind bitter nötig, will man als Drahtesel-Fan in Berlin nicht verzweifeln. Denn jetzt kann man zwar Raddemos veranstalten, was noch vor einem halben Jahr undenkbar war, aber an den miserablen Bedingungen für Radfahrer im Stadtverkehr hat sich bislang nichts geändert. Im Gegenteil: Seit der Öffnung der Grenzen ist die City kaum noch passierbar: Ost- und Westautos erdrücken in trauter deutscher Eintracht alles, was da noch radeln oder fußgängern will. Nicht nur die überfüllten Straßen, auch die Parksituation ist eine Katastrophe. So sind zum Beispiel die Parkhäuser um die Friedrichstraße nicht ausgelastet, weil es auf der Straße immer noch nichts kostet. Dafür parkt man im Zentrum mittlerweile fast übereinander auf den Fußwegen - der Polizei scheinen offenbar auch die Strafzettel ausgegangen zu sein. Im Gegenteil: In letzter Zeit sind noch an den unmöglichsten Stellen die Halte- und Parkverbote aufgehoben worden.

Grund genug für die Demo-Organisatoren (Grüne Partei, Grüne Liga, Neues Forum), dringend nötige Alternativen zum Thema der dritten Fahrraddemo zu machen. Die Strecke war mit Bedacht ausgewählt: Zunächst schiebt man die Räder zum Roten Rathaus. Dort wird gerade ein grünes Transparent mit den wichtigsten Forderungen aufgehängt. Denn der hier ansässige Magistrat hat sich zwar mittlerweile einige Male gewendet, in Sachen Verkehrspolitik jedoch ist offenbar alles beim alten geblieben. „Alles Autofahrer“, ruft jemand neben mir wütend, „die denken nur an noch mehr Parkplätze für ihre Schlitten!“ Tatsächlich finden die Basisinitiativen mit ihren Forderungen nach mehr Geld für Fahrrad, Bahn und Bus statt für breite Asphaltpisten nach wie vor kaum Gehör. Dabei wäre vieles mit geringem Aufwand möglich: Viele Straßen würden von der Breite her noch eine Radspur hergeben, an den U- und S-Bahnhöfen könnten mehr Abstellanlagen aufgebaut werden, die U-Bahn könnte wie im Westteil der Stadt für Fahrräder freigegeben werden, und die Bahnhöfe wären mit ein paar Schrägen an den Treppen fahrradfreundlicher... Auch weiterreichende Maßnahmen wie der Ausbau des Nahverkehrsnetzes, mehr Transportflächen für Räder in den Bahnen sowie Fahrradausleihstationen an zentralen Punkten wären bei entsprechendem guten Willen der Magistratsgewaltigen zu verwirklichen.

Station unterwegs ist auch das Gebäude der BVB. „Nulltarif im Nahverkehr“ steht auf einem Schild. Viele DDR-Bürger nehmen trotz des guten Nahverkehrssystems in Westberlin das Auto, weil ihnen die 5 Mark für die BVG-Tageskarte zu viel sind. Daß im Zuge der deutschen Einheitssoße etwa diese haarsträubenden Tarife übernommen werden, wäre für die Fahrradbewegung in Ostberlin eine Katastrophe.

Weiter geht resp. fährt die Demo entlang der U-Bahn-Strecke Karl-Marx-Allee und am S-Bahn-Strang entlang wieder zurück in Richtung Zentrum. Ziel ist das Haus der Jungen Talente. Als nach einer ganzen Weile alle eingetrudelt sind, werden über einen buntbeklebten Lautsprecherwagen der Grünen Partei Reden geschwungen, in denen noch mal die Vorstellungen der Fahrradinitiativen dargestellt werden. Das Handicap auch hier: Die Probleme sind den hier Versammelten ohnehin bekannt, und die eigentlichen Adressaten sitzen irgendwo im Warmen, das Auto vor der Tür. So erfahren wir auch, daß sich am 4. März in Berlin ein „Allgemeiner Verkehrs- und Fahrradclub Berlin“ (AVFC Berlin) gegründet hat, der sich in Zukunft für umweltfreundliche Alternativen zum Autoverkehr einsetzen will. Dazu zählt man ausdrücklich nicht nur das Fahrrad, sondern auch bessere Bedingungen für Fußgänger, Behinderte und Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel. Außerdem will der Club, der sich als Partner des ADFC, des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs in Westberlin versteht, Alltagsradler und Radtouristen durch spezielle Karten, ein Quartierverzeichnis und die Organisation von Radtouren unterstützen.

Malte Sieber

Kontakt AVFC: Martin Zeise, PSF 235, Berlin 1106

Erstes Anradeln des AVFC am 17. 3., S-Bahnhof Grünau nach Schmöckwitz (ca. 10 km)

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