: Hurra, die Deutschen kommen?
■ Bisherige juristische Standpunkte sind an den neuen Realitäten zu messen / Neues gesamteuropäisches Sicherheitssystem ist notwendig
Entstanden als Ausdruck machtpolitischer Interessenbalance, bleibt das Schicksal der beiden deutschen Staaten eng verbunden mit dem Europas und umgekehrt. Bisher wurde die Stabilität in Europa machtpolitisch, vor allem militärisch, durch die beiden Bündnisse gewährleistet. Nicht erst die jüngsten nationalen wie internationalen Entwicklungen erzwingen heute jedoch die Ergänzung bzw. Ersetzung dieser „Sicherheits„strukturen durch neue, auf die politische, ökonomische, ökologische, humanitäre Zusammenarbeit gerichtete. Spätestens seit der militärstrategischen Parität der beiden Bündnisse wurde deutlich, daß die Sicherheit und ihre Stärkung (national wie international) nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch gemeinsam möglich sind. So gesehen, muß mit der Überwindung der Spaltung Deutschlands auch die Spaltung Europas überwunden werden. Nur darf die Überwindung der Spaltung nicht zu einer Beeinträchtigung der Sicherheit einer der in diesen Prozeß involvierten Seiten und damit der europäischen Sicherheit führen.
Daran, daß die deutsche Einheit kommt, zweifelt wohl kaum noch jemand. Fragen bleiben nach der Art und Weise ihres Zustandekommens. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten die des Zusammenwachsens aus der deutschen Zweistaatlichkeit heraus und die des Anschlusses, das heißt der Aufgabe der einen Staatlichkeit.
Die staatliche Einigung Deutschlands sollte sich in den Prozeß der europäischen Einigung einführen. Die Wahrnehmung und Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes erfolgt innerhalb des europäischen Internationalisierungs- und Demokratisierungsprozesses, in dem Begriffe wie Sicherheit, Selbstbestimmungsrecht, Souveränität erneuerte Inhalte bekommen werden. Die bisherigen politischen wie juristischen Standpunkte sind demzufolge an den neuen Realitäten zu messen. Das betrifft nicht zuletzt Fragen der „Vorbereitung einer friedlichen Regelung für Deutschland“, „Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann“ (Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin vom 2.August 1945). Das schließt Fragen der Präsenz fremder Truppen auf dem Territorium der BRD und der DDR, der zukünftigen Verantwortung der vier Mächte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes sowie der Bündnisse ein. Eine konstruktive Antwort auf diese Fragen im Sinne der Aufrechterhaltung bzw. Stärkung der Sicherheit und Stabilität in Europa wird daher nur eine gesamteuropäische sein. So geht es weniger um den Abschluß eines „Friedensvertrages“ der Alliierten und Assoziierten Mächte einerseits und Deutschland (BRD, DDR) andererseits, um einen deutschen Sonderweg oder um eine Neutralisierung beider beziehungsweise eines der beiden Staaten. Vielmehr geht es um die Schaffung eines neuen Systems der Sicherheit in Europa, um die Errichtung einer gesamteuropäischen Friedensordnung innerhalb des KSZE-Prozesses, in der den Interessen und der Verantwortung der Teilnehmer Rechnung getragen wird. Das jedoch erfordert die Beschleunigung und die an den aktuellen Herausforderungen orientierte Ausgestaltung dieses Prozesses. Denkbar wäre im Hinblick auf die Vorbereitung und Durchführung der KSZE -Gipfelkonferenz im Jahre 1990 die Vereinbarung eines europäischen Vertragswerkes, in dem unter Bekräftigung und Anwendung der Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten, die Voraussetzungen für eine dauerhafte, stabile gesamteuropäische Friedensordnung geschaffen werden. Zu diesen Voraussetzungen müßten unter anderem klare Aussagen zur Verantwortung (ggf. besonderen) von Staaten, zur Unverletzlichkeit der Grenzen, zu den Bündnissen, zu radikaler Abrüstung, zu juristischen und faktischen Garantien, die jede Androhung bzw. Anwendung von Gewalt durch wen und gegen wen auch immer ausschließen, sowie klare Aussagen zu der erforderlichen Institutionalisierung dieser Friedensordnung gehören.
Die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses könnte unter anderem erfolgen durch die Gründung einer internationalen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder durch die Modifikation und Integration bestehender regionaler Institutionen.
Hinsichtlich der Gründung einer OSZE wäre auf der Grundlage der gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Interessenwahrnehmung aller Teilnehmerstaaten zunächst der Abschluß eines Gründungsvertrages denkbar, in dem neben den Zielen und Grundsätzen der Organisation die Mitgliedschaft, die Einsetzung von Organen, deren Aufgaben und Befugnisse, entsprechende Verfahrensregeln sowie der Charakter der Verbindlichkeit der Vereinbarungen vereinbart werden würden. Die OSZE wäre eine zwischenstaatliche Organisation. In ihren Haupt- bzw. Nebenorganen wären jeweils alle Teilnehmerstaaten vertreten. Die Organe sollten als ständige eingesetzt werden. Die OSZE bzw. ihre Organe sollten zum effektiven, praktischen Handeln befugt werden. Dabei solle die Übertragung von Rechten an die Organisation weniger als Einschränkung der jeweiligen staatlichen Souveränität, sondern gerade als Ausübung der staatlichen Souveränität im Prozeß der europäischen Internationalisierung und Demokratisierung verstanden werden.
Zu den Hauptorganen könnten u.a. zählen:
-eine Vollversammlung:
Die Vollversammlung könnte alle den gesamteuropäischen Prozeß bzw. die gesamteuropäische Friedensordnung sowie die Organisation betreffenden Fragen erörtern.
-ein Rat für politische und militärische Stabilität:
Dieser Rat könnte alle Fragen der Sicherheit in Europa erörtern, die Verwirklichung vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen sowie den Abrüstungsprozeß koordinieren und kontrollieren. Er könnte hierzu Nebenorgane einsetzen, etwa eine Europäische Streitkräftebehörde, die eine europäische Verteidigungsdoktrin (Europäisierung der Militärdoktrinen) konzipieren könnte (bis hin zur Aufstellung Europäischer Streitkräfte), und eine Kontrollbehörde, die die Verwirklichung der vertrauens- und sicherheitsbildenden sowie Abrüstungsmaßnahmen organisiert und gewährleistet.
-ein Rat für wirtschaftliche, ökologische und soziale Zusammenarbeit, mit einer Behörde für Handel und industrielle Kooperation, einer Behörde für Wissenschaft und Technik sowie einer Umweltschutz-/Ressourceneinsatzbehörde
-ein Rat für die Zusammenarbeit im humanitären Bereich,
-eine Europäische Informations- und Kommunikationsagentur,
-ein Gerichtshof, (bei Zugrundelegung der obligatorischen Gerichtsbarkeit) mit Kammern für die verschiedenen Sachgebiete und bei anzustrebender Angleichung der jeweiligen nationalen Rechtsordnung sowie
-ein Sekretariat.
Die OSZE könnte analog zu Art. 63 (Charta der Vereinten Nationen) ihre Beziehungen zu beziehungsweise mit bestehenden europäischen internationalen Organisationen wie den Eurpäischen Gemeinschaften, dem Europarat sowie dem UN -System regeln.
Ausgehend davon, daß Sicherheit unter den Bedingungen der Interdependenz nur noch gemeinsam gewährleistet werden kann, sollte auch die Verantwortung für die Gewährleistung gemeinsam getragen werden. Diese gemeinsame Verantwortung sollte zu Vereinbarungen führen, die das aktive Zusammenwirken sowohl der 23 in der NATO bzw. WVO integrierten als auch der 12+1 (Albanien) neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten sichern.
Mit der OSZE würde dem engen Zusammenhang zwischen europäischer und universeller Sicherheit zwischen der Lösung europäischer und globaler Probleme Rechnung getragen werden, nicht zuletzt, um mit anderen Strukturen der Sicherheit und Zusammenarbeit kompatibel zu sein. So wären zum Beispiel vier ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, die ohnhehin eine besondere Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit tragen, auch Mitlgieder dieser Organisation.
Ein so beschriebenes Herangehen an die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses würde ein gewandeltes Souveränitätsverständnis bei den Teilnehmern voraussetzen und sollte auch zu der rechtlichen Gestaltung (international wie national) dieses Prozesses führen einschließlich der Überprüfung bzw. Veränderung der Verfahren der Willensbildung.
Um auf „Deutschland“ (BRD, DDR) zurückzkommen - ein in dieser Weise institutionalisiertes gesamteuropäisches Sicherheitssystem würde den künftigen deutschen Staat (ob Konföderation oder Föderation) politisch, militärisch, wirtschaftlich und sozial fest einbinden und es dem deutschen Volk ermöglichen, „zu gegebener Zeit seinen Platz unter den freien und friedlichen Völkern der Welt einzunehmen“ (Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin vom 2. August 1945). Ein von den anderen Staaten berechenbares und sich selbst verantwortungsvoll berechnendes, das heißt verantwortungsbewußt handelndes Deutschland - ein europäisiertes Deutschland - sollte Inhalt und Ziel des deutschen Einigungsprozesses sein. Um dem Nachdruck zu verleihen, wären bei der Wahl geeigneter Sitzstädte für OSZE-Institutionen (auch) deutsche Städte, und nicht zuletzt Berlin, denkbar.
Karsten Fischer; Peter Morgenstern
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