: Liebste Freundin!
■ B R I E F
Entschuldige bitte, wenn Dir mein Ton am vergangenen Wochenende wehgetan hat. Aber Du hast mich mit Deinen Vorwürfen genervt. Ich wüßte nicht, was ich wolle, sei maßlos und ohne Sinn für die Realität. Sicher, aus meinen Wortfetzen konntest Du nichts Faßbares für Dich entnehmen. Aber so ist es nun mal. Ich kann nicht Gewißheit spielen, wenn es sie nicht gibt. Nicht mehr gibt. Bis jetzt ging alles so glatt. Sterbenslangweilig, sage ich. Und Du. Ich wüßte nicht, wovon ich rede. Oh doch und Du weißt es auch. Jetzt stolpern wir über den ersten Stein, der uns in den Weg gelegt wird. Du wartest auf den Vorruhestand, wenigstens die drei Jahre noch bei der Stange bleiben. Den Arbeitsplatz behalten. Mir kommen die Tränen. Du willst Deine Ruhe haben. Dabei warst Du immer so scharf auf Arbeit. „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus...“, weißt Du noch? Ich lache über das Lied heute. Aber Du warst furchtbar stolz auf uns, wenn wir es den Frauen in Deinem Betrieb zum Frauentag sangen. Ich sehe Dich noch in Deinem weißen Kittel durchs Labor gehen, Ratschläge und Aufträge erteilen. So habe ich Dich gemalt im Zeichenunterricht der vierten Klasse. Das Bild hast Du Dir aufgehoben. Und wie Du Dich mit Vater über den Betrieb gestritten hast. Am Abendbrottisch. Stundenlang. Wir Kinder waren froh, weil so die Schlafenszeit hinausgezögert wurde. Es gibt ein Foto von Dir. 1. Mai Anfang der 70er. Du mit Ledermütze und kurzem Rock. Die Frauen neben Dir kreischen vor Freude. Keine Spur von Koketterie. Ihr macht nicht bitte, bitte. Und jetzt? Wann war das, wann wurde Dir die Arbeit zur Last? Seit Anfang der 80er, sagst Du. Da ging es nicht mehr vorwärts und es war nicht mehr Dein Betrieb. Und nun? Wo ist Dein großer Mund, Dein breites Lachen? Ja doch'Du hast auch früher geheult, wenn Du Dich ungerecht behandelt fühltest. Aber aus Wut! Jetzt stotterst Du, weil der Chef Dich wegrationalisieren will aus seinem Betrieb, weil er den Kulturfonds streichen will, die Rentnerfahrt jetzt rausgeschmissenes Geld ist ... Noch verbrennst Du Dir den Mund, stotternd und nicht mehr so selbstbewußt und fordernd wie auf dem Foto am 1. Mai mit Ledermütze und Minirock. Doch Du warnst mich, ich solle mich absichern, lieb und nett zu meinem Mann sein. In diesen Zeiten, wer weiß. Aber warum sollte gerade ich zurückstecken und Du mußt es erst recht nicht. Das wollte ich Dir sagen. So einfach. Und, daß ich Dich liebe
Deine Tochter Babe
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