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Schlachtruf: Willy Brandt kommt

■ Wahlkampf der SPD mit geliehenen Rednern in Dresden / Second-hand-Hoffnungsträger werben für eine Zukunft / Nichts Konkretes läßt sich nicht mit nach Hause nehmen / Warten worauf?

Dresden (taz) - Eine Stunde vor Beginn der Wahlkampfveranstaltung der SPD laufen wenige über den Dresdner Altmarkt, manche zielstrebig auf einen roten SPD -Sonnenschirm-Stand zu, oder woanders hin. Jeder Neugierige muß erst, wenn er am windigen Montag von der Einkaufszeile oder von der Straßenbahnhaltestelle aus kommt, den ganzen Platz überqueren. Wer soll da zu wem kommen? Die DSU ist da schlauer und läßt gut plaziert eines ihrer Flugblätter verteilen: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ darüber lachend Honecker und Lafontaine auf einer mittelmäßigen Fotokopie.

Am SPD-Stand herrscht Stille. Die Verteiler trauen sich nicht oder wissen nichts zu sagen. Wortlos wird ein Info -Papier den Passanten in die Hand gedrückt. Ibrahim Böhme wird später davon reden, daß die SPD auf die Leute zugehen, ihnen zuhören, mit ihnen reden will. Keiner der Männer, Jugendlichen (wenig Frauen), die sich mit grün-weißer SPD -Armbinde gekennzeichnet haben, gibt sich als Kandidat oder Diskussionspartner zu erkennen. Auf dem Papier fordert die SPD: „Dynamo Dresden in die Bundesliga“. Ein weiteres weiß von der Zwangsvereinigung von KPD und SPD von 1946 zu berichten, ein drittes widerlegt die Wahlkampfparolen anderer (SED-Unterwanderung, Wendehälse), ein 16 Seiten starkes Extra-Blatt vom Leipziger Parteitag.

Der vermeintliche politische Gegner wird gar nicht erst angegriffen, abgesehen von PDS und Planwirtschaft auch nicht recht benannt. Man will ja nicht alleine regieren. Dieser Tenor schwingt auch in den Reden mit, die pünktlich um 18.00 Uhr beginnen. Der Platz ist nur zur Hälfte gefüllt.

Eine Atmosphäre von netter, freundlicher Erwartung. Wenige Fahnen und ebensowenig Applaus, eher höfliches Klatschen, Vorstellen der Männer auf dem Podium. Was will wohl Spöri, SPD-Vorsitzender aus Baden-Württemberg? Leichtes Raunen auch, als der Generalsekretär der SI vorgestellt wird. SPD -Spitzenkandidat für Sachsen ist der einzige DDR-Richter, der nicht in der SED war. Oh schöne, saubere Moral, klatschen wir hier ein wenig lauter.

Es wird gefordert: eine Wirtschafts-, Währungs- und vor allem eine Sozial-Union. Die Umwelt soll gerettet werden, man möchte wieder in der Elbe baden, „sehr gewagt“, alte Gebäude sollen saniert, die Arbeits- und Lebensbedingungen des medizinischen Personals inklusive technischer Ausstattung verbessert werden.

Die Knete hierfür werde schon kommen, Helmut stehe in der Pflicht und müsse auch einem Sozialdemokraten als Regierungschef Geld geben. Wie bei vielen Aussagen auch hier eher defensives Lufttreten. Aggressiver Wahlkampf wird abgelehnt, der hier ist noch nicht einmal angriffslustig. Die Argumente kratzen nur an der Oberfläche der Emotionen und Gedanken der Zuhörer. Vieles bleibt im Ungenauen und Unbestimmten. Nichts Konkretes läßt sich mit nach Hause nehmen.

Außer, daß man Willy gesehen hat. Doch auch seine Bitte, die Koffer wieder auszupacken, verhallt im Empfinden einer Ratlosigkeit, was man denn danach tun soll. Keiner, der im Areal Mut zum Anpacken gab oder zum Aufbruch blies.

Wie Katastrophengeläut legen die Glocken um sieben Uhr los, just als Willy kurz auf den Zusammenbruch der Schmidt/Genscher-Regierung kommt - eben die tiefe Weltwirtschafts- und Ölkrise war dran schuld. Das Geläute dauert bis zum Ende der Brandt-Rede fort.

Ein Zuschauer: „Was meinst Du, was es gegeben hätte, wenn Kohl gekommen wär?“ „Ja, Bananen und Schnaps.“

Stefen Niemeyer

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