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Leipzig vor den Wahlen

■ Bundesdeutsche Spitzenpolitiker geben sich die Klinke in die Hand / Heil und Segen von jenseits der Elbe / Haussmann: Ich bin für einen Sprung ins kalte Wasser

Bierstände aus aller Herren Bundesländer beherrschen zur Zeit das Bild der Leipziger Innenstadt. Schon für 3,50 Mark (DDR) kann der durstige Messe-Städter westliches Gebräu durch seine Kehle rinnen lassen. Will er hingegen seinen Gaumen mit Kiwifrüchten oder Tomaten beglücken, muß er das Portemonnaie mit der D-Mark ziehen - unter dem machen es die angereisten Brüder und Schwestern aus der Obst- und Gemüsebranche nicht. Und so bleibt das Kaufinteresse mäßig. Aber was soll's; wenn der arme Sachse schon nicht die harte Mark fürs frische Obst besitzt, so kann er sich doch einmal satt daran sehen. So ist es nicht verwunderlich, daß auf den voraussichtlich letzten Montags-Demonstrationen wiederum die schnellstmögliche (Währungs-)Vereinigung gefordert wurde: „Kommt die D-Mark bleiben wir - Kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr!“ Dieser Slogan scheint typisch für die Verfassung der Mehrheit der Bewohner der sächsischen Metropole, wenn nicht des ganzen Landes überhaupt zu sein. Selbstbewußtsein, das im Oktober doch so stark zu spürende Vertrauen in die eigene Kraft sind vollständig abhanden gekommen; Heil und Segen werden ausschließlich nur noch von jenseits der Elbe erwartet. Und wie das Stimmungsbild auf der Straße - so das Auftreten der einheimischen Politiker. Beides bedingt sich augenscheinlich.

Da stehen sie und reden auf provisorisch zusammengezimmerten Tribünen, immer einen devoten Blick nach links oder rechts - je nachdem, wo der Star des Abends gerade Aufstellung genommen hat. Nicht der Spitzenkandidat der eigenen Partei ist die Hauptperson der Veranstaltung, sondern der reiche Vetter aus dem Westen. Und die geben sich - in der Endphase des Wahlkampfes - hier zur Zeit die Klinke in die Hand. Eigentlich hatte ja der Runde Tisch der Stadt Leipzig (er ist zur Zeit wohl das einzige funktionierende kommunale Machtorgan) beschlossen, auf Wahlkampfveranstaltungen in der City während der Messezeit zu verzichten - doch was gilt schon ein solcher Beschluß (selbst, wenn man ihn mitgetragen hat) wenn es darum geht, um der eigenen Macht willen schnell noch ein paar Stimmen einzufangen.

Von den größeren Vereinigungen machte da der Bund Freier Demokraten eine rühmliche Ausnahme - seine Veranstaltung fand im Saale statt.

Aber auch hier: Eigenes einzubringen traute man sich wohl eh nicht mehr zu, ein Stargast mußte her - ein bundesdeutscher natürlich. Und so ließ es sich Bundes -Wirtschaftsminister Haussmann auch nicht nehmen, seinen ostzonalen Gesinnungsfreunden eine schnelle Währungs- und Wirtschaftsunion schmackhaft zu machen. Deutschland - einig Marktwirtschaft! Es stimme doch nicht, so Haussmann, daß Modrow seinerzeit mit leeren Händen aus Bonn zurückgekehrt sei. „Wenn wir, sagen wir mal, Ungarn die Einführung der D -Mark als gesetzliches Zahlungsmittel angeboten hätten - ich bitte Sie, dieser Tag wäre doch als neuer Nationalfeiertag begangen worden!“

Der Minister - immer wieder die bösen Angstmacher der Linken geißelnd - machte den Anwesenden klar, daß nur ein sofortiger Einstieg in die sogenannte soziale Marktwirtschaft die heruntergewirtschaftete DDR noch retten könne: „Ich bin für einen Sprung ins kalte Wasser!“

Den schüchtern vorgetragenen Einwand, daß doch bei einer Soforteinführung der bundesdeutschen Währung als Einheitsmark rund die Hälfte aller produzierenden DDR -Betriebe wegen Unrentabilität Konkurs anmelden müßten, nahm Haussmann nicht so tragisch. „Sicher wird es kurzzeitig zu einer erhöhten Arbeitslosigkeit kommen. Doch da muß man halt dafür sorgen, daß die freigestellten Arbeitskräfte geistig und lokal mobil sind.“ Was wohl nur heißen kann, daß der arbeitslos gewordene Schlosser einer Rostocker Werft gefälligst befähigt und bereit sein muß, Marketing-Fachmann einer Computer-Firma in Suhl zu werden - oder wie? Aber vielleicht habe ich Herrn Haussmann da auch bloß mißverstanden. Überhaupt war auf der Veranstaltung immer nur von den Sonnenseiten der Marktwirtschaft die Rede. Von der seit Jahren um die zwei Millionen schwankenden Arbeitslosenrate mochte er ebensowenig sprechen wie darüber, daß ein Monteur bei Daimler-Benz nur deshalb 4 000 Mark verdienen kann, weil sein schwarzer Kollege bei der gleichen Firma in Johannesburg nicht einmal ein Zehntel davon ausgezahlt bekommt. Aber vielleicht tue ich dem Herrn Bundesminister Unrecht - hat er doch von seinen liberalen Gesinnungsgenossen niemand danach gefragt.

Am Dienstag war dann Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt an der Reihe. Nach einer Kundgebung auf dem Dimitroff-Platz hielt auch er Hof im Hörsaal 19 der Leipziger Karl-Marx -Universität. Vor geladenen Gästen sprach er über seine Vorstellung über ein künftiges Deutschland. Verständnis zeigte er vor allem für den Wunsch der Westmächte, ein vereinigtes Deutschland müsse der NATO angehören. „Denn sehen Sie“, so Schmidt, „die NATO ist doch damals aus zwei Gründen entstanden. Erstens, um der Bedrohung aus dem Osten, aus der stalinistischen Sowjetunion vor allem, etwas entgegensetzen zu können - das war sozusagen der erste und offizielle Grund. Der zweite aber, der jetzt, nachdem die militärische Bedeutung des Pakts immer mehr in den Hintergrund rückt, war doch der, die Deutschen unter Kontrolle zu halten. Dieser Aspekt tritt jetzt, wo die Wiedervereinigung in greifbare Nähe gerückt ist, verstärkt in den Vordergrund.“ Die Länder Europas hätten ganz einfach Angst, daß ein neutrales Deutschland ein zu starker und ohne Bündnisverpflichtung praktisch unkontrollierbarer Machtfaktor auf dem Kontinent werden könnte.

Desweiteren warnte Schmidt vor Illusionen, ein Anschluß an die Bundesrepublik wäre schnell zu bewerkstelligen. Zu groß seien die Unterschiede, als daß man sie von heute auf morgen überwinden könne. Am Anfang müsse eine Wirtschafts- und Währungsunion stehen - dies sei relativ schnell zu machen. Was aber die rechtliche Angleichung beträfe - das könne noch Jahre dauern. Beim Saarland damals waren es drei Jahre, bis es voll integriert war. Doch da waren die strukturellen Unterschiede längst nicht so groß wie zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Ansonsten aber sprach er sich für einen Anschluß nach Paragraphen 23 des Grundgesetzes aus. „Natürlich wäre auch der Weg über den Paragraph 146 möglich - doch das würde ja bedeuten, daß es erstmal zu langwierigen Verfassungsverfahren kommen würde. Ich bin aber der Meinung, daß das Grundgesetz, so wie es jetzt besteht, die beste Verfassung ist, die es jemals in Deutschland gegeben hat. Etwas Besseres werden wir Deutschen wohl kaum zustande bringen.“

Am Mittwoch schließlich erschien der Einheits-Apostel aus Oggersheim. Neues hatte er nicht zu erzählen, doch das machte den rund 250 000 auf dem Leipziger Opernplatz wenig aus. Sie johlten und jubelten „ihrem“ Kanzler zu, dem das Deutschtum nur so von den Lippen troff. Da paßte es auch wunderbar ins Konzept, daß der Tontechnik gleich zweimal der Strom wegblieb und relative Ruhe herrschte. Für Kohl waren da natürlich Saboteure am Werk - ich glaube aber eher, daß auch Technik nur bis zu einem gewissen Grade belastbar ist.

Olaf Kampmann

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