: Der Warschauer Vertrag und das Europäische Haus
Neues Denken auch im Westen: Ost und West gemeinsam gegen Süd / Warschauer Vertrag soll politischer Partner der NATO werden ■ Von Dominic Johnson
Am heutigen Samstag treffen sich die Außenminister der Warschauer Vertragsorganisation (WVO). Im Mittelpunkt der Beratungen stehen Überlegungen zur künftigen Struktur des Bündnisses als politischer Organisation. Durch die jüngsten Revolutionen sind die WVO-Staaten aber kaum in der Lage, eigene Konzepte vorzubringen. Sie können höchstens koordiniert auf die Vorstellungen der NATO-Staaten reagieren. Wie sieht also die Debatte im Westen aus?
Seit dem „neuen Denken“ in der Sowjetunion hat auch die NATO einen Bewußtseinswandel durchgemacht, wenn auch nicht von derselben Art. Es hat eine Umorientierung in den Denkelementen des Kalten Krieges stattgefunden, ohne daß diese Elemente insgesamt in Frage gestellt werden.
Das Element der Bedrohung: früher war die angebliche Bedrohung eine Rechtfertigung für die Anhäufung von Massenvernichtungswaffen. Heute werden diese Waffen als immer weniger nützlich angesehen; außerdem ist eine weitere Aufrüstung wirtschaftlich nicht zu verkraften.
Das Element der politischen Gegnerschaft: früher sah sich die NATO zur Abgrenzung gegen den Osten verpflichtet, der als ebenbürtige Macht angesehen wurde. Heute ist er dies nicht mehr; dies wird gleichzeitig als Chance zur aktiven Beeinflussung der osteuropäischen Staaten gesehen.
Das Element der globalen Präsenz: früher wurde eine möglichst umfassende Militärpräsenz in allen Konfliktherden der Welt für nötig geahlten, da alle Weltkonflikte im Ost -West-Schema analysiert wurden. Inzwischen hat die Dritte Welt eigene Widersprüchlichkeiten und politische Kräfte entwickelt, die eine solche Analyse nicht mehr zulassen. Stattdessen werden Bedrohungen aus der Dritten Welt erfunden - „Drogen aus Südamerika“, „Terrorismus aus dem Nahen Osten“ -, welche nicht auf ihre Wurzeln zurückgeführt werden, sondern stattdessen in ihren Symptomen beide Bündnisse gleich stark betreffen sollen.
Um zu verstehen, was für Ideen der Westen aus diesem Bewußtseinswandel entwickelt, muß man sich vor Augen halten, daß die im Denken des Kalten Krieges geschulte Politikerkaste in den NATO-Staaten noch immer die politische Diskussion beherrscht. Durch die veränderte internationale Lage sind ihre Analysen jetzt immer mehr von Existenzangst gezeichnet. Da diese jedoch mit einer unschlagbaren wirtschaftlichen Macht gekoppelt ist, ist es ihnen möglich, aus den defensiven Grundhaltungen offensive Strategien zu machen. Dies ist vor allem in den letzten zwölf Monaten geschehen.
Der defensive Aspekt in den gegenwärtigen Debatten kommt darin zum Ausdruck, daß von den drei genannten Elementen des Kalten Krieges jeweils ein Grundstock erhalten bleiben soll. So wird die atomare Abschreckung nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Außerdem wird der einstige Gegner immer noch als politisches Gegenüber verstanden, mit dem jetzt partnerschaftlich umzugehen sei. Zuletzt werden die neu entdeckten Konfliktherde als Bedrohungen der westlichen Wertegemeinschaft analysiert, gewissermaßen als Ersatz für die verlorengegangene „rote Gefahr“.
All dies wird dann offensiv verpackt. Die NATO bietet bei den Abrüstungsverhandlungen einen drastischen Abbau der US -Truppen und der Atomstreitkräfte an, und zwar so, daß jeweils ein Minimum erhalten bleibt. Als zweites Element fungiert dann die „Baker-Doktrin“ des Außenministeriums, welche ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem unter Mitwirkung von NATO, EG, EFTA und des Europarats sowie des KSZE-Prozesses vorsieht. Außerdem wird über die Neuausrichtung der NATO gegen Süden nachgedacht, sodaß die angehäufte Militärmacht gegen die neuen „Bedrohungen“ aus der Dritten Welt eingesetzt werden kann.
Wie sieht die Rolle der WVO nach diesen Vorstellungen aus? Auch hier ist eine Trennung zwischen defensiven und offensiven Aspekten sichtbar. Der defensive Aspekt stützt sich auf die Beschlüsse der NATO-Tagung von Mai 1989, in denen erstmals Näheres zum Konzept einer eher politisch ausgerichteten NATO gesagt wird.
Die drei Elemente sind darin die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, der Austausch von Experten zur Förderung demokratischer Politik und der gemeinsame Kampf gegen Drogen und Terrorismus. Was damals lediglich als interne Kooperation gedacht war, bietet sich heute durchaus als Zielgabe einer NATO-WVO-Zusammenarbeit an.
Der offensive Aspekt des NATO-Angebots ist eine Weiterentwicklung und Präzisierung dieser Zielvorgaben. Seit den Ottawa-Gesprächen im Februar 1990 und den daraus folgenden Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über Deutschland sind seine Konturen sichtbarer geworden.
An erster Stelle steht die regelmäßige wechselseitige Konsultation zu Fragen der gemeinsamen Sicherheit (wie heute die deutsche Frage) sowie ein eventueller Sicherungsvertrag, nach dem sich die beiden Bündnisse gegenseitig ihre Sicherheit garantieren.
Als zweites Element kommt die Einbindung Osteuropas in den Wirtschaftsraum der EG sowie Hilfe beim Aufbau des Kapitalismus in den WVO-Staaten.
Zum Abschluß entsteht dann ein gemeinsamer Standpunkt gegenüber den Ländern der Dritten Welt und den dortigen Konflikten wie auch eine koordinierte Anti-Drogen- und Antiflüchtlingspolitik.
Wenn auch noch lange nicht Einigkeit unter westlichen Politikern über dieses Zukunftsbild herrscht, so ist doch eines klar: Gorbatschows Idee eines „gemeinsamen europäischen Hauses“ ist vom Westen übernommen worden.
Daß Europa damit zu einer abgeschotteten Oase des Reichtums in einer ausgehungerten und krisengeschüttelten Welt wird, war nicht seine Intention, ist den NATO-Politikern aber durchaus recht.
Die neue Frontlinie verläuft nicht mehr zwischen Ost und West; jetzt sollen sich beide gegen den Süden vereinen. Die WVO-Staaten werden wohl kaum lange zu überlegen haben, auf welcher Seite es sich gemütlicher leben wird.
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