: Auf dem Weg nach Deutschland
Chancen und Gefahren: Die Wiederbelebung eines politischen Riesen Von Professor Kurt Biedenkopf ■ D E B A T T E
Fünf Monate nach dem Sturz Honeckers, gut vier Monate nach der Öffnung der Mauer haben die Deutschen in der DDR zum ersten Mal frei gewählt. Der Abstimmung mit den Füßen folgte die Abstimmung mit dem Wahlzettel. Die Botschaft war die gleiche: Sie wollen gleiche Lebensbedingungen. Sie wollen keine erneuerte DDR, sie wollen Deutschland als einig Vaterland.
Die Vereinigungsdebatte kann nicht unter dem Gesichtspunkt geführt werden: Wie integrieren wir die DDR in die Bundesrepublik? Die Frage muß vielmehr lauten: Wie wollen wir das Deutschland gestalten, das aus der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hervorgeht, wie seine Aufgaben und Ziele definieren? Denn sicher ist, daß am Tage der Vereinigung beider deutscher Staaten die Bundesrepublik in dem neuen Staatswesen ebenso aufgehen wird wie die DDR. Eine neue Qualität wird entstehen, die von beiden deutschen Nachkriegsstaaten verschieden sein wird. Nur wenn darüber Klarheit besteht, kann der Weg zur Einheit erfolgreich beschritten werden.
Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten verschieben sich auch die innenpolitischen Strukturen, die sich in den beiden Nachkriegsstaaten entwickelt haben. Für die bisherige DDR bedeutet die Einheit die Erneuerung des föderativen Aufbaus. Die Länder werden nicht nur wiederentstehen. Sie werden auch, in Anlehnung an die föderative Struktur der Bundesrepublik, einen wesentlichen Teil der politischen und administrativen Zuständigkeiten übernehmen, die heute in der DDR-Regierung zusammengefaßt sind. Damit erhalten die Bundesländer der Bundesrepublik Verstärkung bei ihren Bemühungen, die Zuständigkeit der Bundesländer zu sichern und weiter zu stärken.
Geographisch wird neben die gewohnte Nord-Süd-Orientierung in der Bundesrepublik eine Ost-West-Orientierung treten, mit der wir bisher keine politische Erfahrung haben. Mit den Ländern im östlichen Teil Deutschlands werden landsmannschaftliche und regionale Eigenheiten, die wir bisher nicht kannten, die Vielfalt der deutschen Landschaft vergrößern.
West-östliche Affinitäten werden erkennbar werden, welche die Orientierung sowohl der nördlichen als auch der südlichen Bundesländer beeinflussen werden. Die Nähe Bayerns oder Hessens zu Thüringen, Niedersachsens zu Sachsen-Anhalt oder Hamburgs zu Schwerin und Mecklenburg ist schon in den letzten Wochen deutlich hervorgetreten.
Die Vereinigung beider deutscher Staaten beendet das staatliche Provisorium, in dem die Deutschen in den vergangenen rund 40 Jahren gelebt haben. Das Deutschland in den Grenzen von 1990 ist das „endgültige“ staatliche Gebilde, in dem wir als Deutsche leben werden. Diese Feststellung betrifft nicht nur die Endgültigkeit des Verlustes der deutschen Ostgebiete als Teil eines deutschen Staates. Bedeutsam ist die Endgültigkeit des geeinten Deutschlands vor allem deshalb, weil mit dem Provisorium auch die Möglichkeit entfällt, sich der Auseinandersetzung mit dem Wesen und der Identität Deutschlands zu entziehen.
Fragen nach unserem Standort und unserer nationalen Identität können wir nicht länger mit dem Hinweis unserer jeweiligen Einbindung in antagonistische Militärbündnisse und auf die Ungeklärtheit der deutschen Zukunft ausweichen. Mit der Einheit endet die Vormundschaft der Blöcke. Durch die Einheit werden wir, was unsere Identität und unseren Auftrag angeht, auf uns selbst zurückverwiesen. Die Zeit, in der die Bundesrepublik sich als ökonomischer Riese und politischer Zwerg begreifen konnte, wie Helmut Schmidt es einst formuliert hat, ist dann zu Ende. Wir sind nicht mehr Juniorpartner einer Weltmacht, sondern, mit rund 79 Millionen Einwohnern und einer ungewöhnlich leistungsfähigen Wirtschaft, eigenständiger Partner der Gemeinschaft europäischer Völker und in der Welt. Durch die Einheit werden wir so gezwungen, auf eine gültige Weise zu bestimmen, was Deutschland für uns bedeutet.
Ob wir auch im geeinten Deutschland am bisherigen Selbstverständnis unserer Bundesrepublik festhalten können oder uns um eine Neubestimmung bemühen müssen: Darum geht es unterschwellig auch bei der Auseinandersetzung um den richtigen verfassungsrechtlichen Weg zur Einheit. Nüchtern betrachtet ist der Streit, ob die Einheit auf dem Weg des Artikels 23 oder des Artikels 146 GG angestrebt werden soll, wenig fruchtbar. Verfassungsrechtler machen zu Recht darauf aufmerksam, daß beide Vorschriften sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzen. Auch der Beitritt der DDR oder ihrer neu entstandenen Länder zum Grundgesetz nach Artikel 23 Absatz 2 GG ist - wie sich inzwischen gezeigt hat - nicht ohne umfangreiche Vorbereitungen auf lange Übergangsfristen und nicht ohne Änderung des Grundgesetzes möglich. Das Grundgesetz sollte die Grundlage auch der deutschen Verfassung und soweit wie möglich übernommen werden. Es hat sich, auch Dank seiner vielfachen Anpassung an veränderte Verhältnisse, als eine gute Verfassung erwiesen und bewährt.
Niemand wird leugnen, daß mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten eine umfassendere Veränderung der politischen Wirklichkeit verbunden sein wird als je zuvor in der Geschichte unserer Republik. Es macht deshalb wenig Sinn, gerade in diesem Fall Verfassungsänderungen auszuschließen, soweit sie nicht formal geboten sind.
Kurt Biedenkopf hat eine Gastprofessur am Zentrum für Internationale Wirtschaft in Leipzig übernommen. Themen seiner Vorlesung: „Grundzüge des Wettbewerbsrechts“ und „Einführung in die Soziale Marktwirtschaft“. Beginn: 2. April.
(Auszüge aus der Süddeutschen Zeitung vom 25. 3.)
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