Kein Interesse an „Entstasifizierung“ des neugewählten Parlaments

■ Bürgerbewegungen befürchten Glaubwürdigkeitsverlust und Erpreßbarkeit /Demonstration angekündigt

(dpa/adn/taz) - Die Volkskammerfraktion von „Bündnis 90“ und Grünen und der Regierungsbeauftragte für die Auflösung der Staatssicherheitsdienste, Werner Fischer, befürchten eine Verschleppung der Überprüfung von Volkskammer-Abgeordneten wegen möglicher Spitzeldienste für die Stasi. Der Neubeginn der parlamentarischen Arbeit des freigewählten Parlaments dürfe nicht belastet bleiben von den in der Öffentlichkeit ausgesprochenen Verdächtigungen. Vor der Presse erklärten sie am Dienstag in Berlin, in diesem Falle würde das neue Parlament mit einem „drohenden Glaubwürdigkeitsverlust“ arbeiten. Vertreter der Bürgerbewegungen betonten übereinstimmend, wenn nicht bald die Überprüfung verdächtigter Volkskammerabgeordneter erfolge, sei das Parlament künftig erpreßbar.

Generalstaatsanwalt Joseph hatte zuvor unter Hinweis auf Verfassungswidrigkeit und Verletzung von Persönlichkeitsrechten eine Einsichtnahme in die Akten verdächtigter Parlamentarier abgelehnt. Diesem Standpunkt hätten sich am vergangenen Donnerstag zwei Mitglieder des mit der Leitung der Stasi-Auflösung beauftragten Dreiergremiums angeschlossen. Damit sei, so erklärte Fischer, der als einziger der drei Regierungsbeauftragten für die Durchleuchtung gestimmt hatte, eine Überprüfung der Abgeordneten unmöglich gemacht worden, da nur eine einstimmige Entscheidung des Gremiums die Weigerung des Generalstaatsanwalts unwirksam hätte werden lassen. Um zu garantieren, daß die Untersuchung weitergehe, wolle man nach den Worten des Ministers ohne Geschäftsbereich und Vertreter der Initiative Frieden und Menschenrechte, die Bildung eines entsprechenden parlamentarischen Ausschusses fordern. Das Wahlbündnis 90 hat sich in einem Brief an alle Volkskammerabgeordneten für die Überprüfung der Stasi-Akten noch vor der konstituierenden Sitzung des Parlaments eingesetzt. „Es geht um die Herstellung der Glaubwürdigkeit“, heißt es in dem Schreiben. Nach Angaben Gert Poppes will sich die SPD dieser Forderung anschließen. Um die Durchleuchtung von verdächtigten Politikern möglichst rasch in Gang zu setzen, hat das Neue Forum in Berlin für diesen Donnerstag auf dem Alexanderplatz zu einer Demonstration aufgerufen. Es sei wichtig zu erfahren, welches Interesse die Bevölkerung an der Aufarbeitung der Vergangenheit habe. Das Motto: „Wir demonstrieren wieder! Keine Stasi-Fraktionen in der Volkskammer!“

Eile sei nach den Worten des Regierungsbeauftragten Fischer auch deshalb geboten, da „angesichts des rasanten Tempos in Richtung Vereinigung die Wahrscheinlichkeit besteht, daß diese Bestände von anderen Geheimdiensten übernommen werden können.“ Die Veranstalter der Pressekonferenz berichteten über „alarmierende Papiere, die sehr beunruhigen“. In diesem Zusammenhang wurde ein Protestschreiben des ehemaligen Stasi -Bezirkschefs Frankfurt/Oder und jetzigen beauftragten Leiters zur Auflösung des AfNS, Engelhardt, verlesen. Darin warnt er davor, daß „Überprüfungen nur der Beginn einer Aktion mit unübersehbaren Folgen“ seien.

Minister Sebastian Pflugbeil zitierte aus einer Geheimen Stasi-Verschlußsache von 1976, sogenannte „operative Vorgänge“ betreffend. In dem Dokument werden als bewährte Formen der Zersetzung unter anderem anonyme Briefe und Telefonate sowie die gezielte Verbreitung von Gerüchten genannt.

Unterdessen hat die Stadtwahlkommission in Gera empfohlen, die Kandidaten für die Kommunalwahlen am 6. Mai sollten ihren Bewerbungsunterlagen Eidesstattliche Erklärungen beifügen, daß sie nicht Mitarbeiter oder Informanten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit gewesen sind. Andernfalls müßten sie ihre Verbindung offenlegen.

Bürger, die mit der Auflösung der Stasi und der Nachfolgebehörde des Amtes für Nationale Sicherheit befaßt sind, erhalten inzwischen auch anonyme Drohbriefe und Anrufe. Fischer berichtete am Rande der Pressekonferenz von Morddrohungen gegen ihn. In diesem Zusammenhang sieht er auch den Angriff auf ein Mitglied des Erfurter Bürgerkomitees. Es war in seinem Auto von einem anderen Fahrzeug gerammt und von der Straße gedrängt worden. Der Fahrer sei geflüchtet.

Heftige Kritik übten Vertreter des Wahlbündnis 90 an den Vorschlag vom Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Der Minister hatte eine großzügige Amnestie für ehemalige Stasi-Mitarbeiter angeregt. Die sich häufenden Vorwürfe einer Stasi-Mitarbeit gegen DDR-Politker könnten sonst dazu beitragen, die Stabilität der DDR zu gefährden.

Minister Sebastian Pflugbeil (Neues Forum) sagte zu der Schäuble-Äußerung: „So lösen wir die Probleme nicht.“ Es sei „fatal“, daß in der DDR und auch in der Bundesrepublik zum Teil die Stimmung erzeugt werde, „vielfacher Verfassungsbruch“ der Stasi und ihrer Mitarbeiter sei „als politischer Kavaliersdelikt“ einzuordnen.