: STUHL ODER SITZMASCHINE? NEUES WOHNEN
■ Eine Stimme aus der jungen Generation unserer Architekten Von Julius Posener in der 'Vossischen Zeitung‘, Berlin 1932
Eine Schar von Baukritikern ist seit einer Weile dabei, die Sachlichkeit zu entlarven. Sie weisen an einer ganzen Reihe von Bauwerken nach, daß es nicht die „Hörsamkeit“ ist oder die „Hygiene“ oder „Licht, Lust, Bewegung“ oder „die Bedingungen des Verkehrs“, denen sie ihre Form verdanken, sondern daß diese Ausdrücke nur Zauberformeln sind, unter deren Schutz der Architekt, der sie anwendet, mehr oder weniger bewußt seiner rein künstlerischen Formkraft die Zügel schießen läßt.
Solche Angriffe sind nützlich; sie öffnen dem Publikum die Augen für eine Demagogie, von der es sich allzulange hat einschüchtern lassen, und erziehen es dazu, die Theorien und das, was sich als ihre Verwirklichung ausgibt, reinlich zu scheiden: Aber sie treffen doch nicht eigentlich die Zweckästhetik selbst: Laßt sie entlarven, sagt bereits heute eine Reihe energischer Funktionalisten: „Je mehr Götzen zertrümmert werden, desto klarer wird das Feld für die Verwirklichung der wahren Zweckkunst, desto unbefangener und reiner können wir Neueren an unsere Arbeit gehen.“ Man muß also wohl einmal die Sache selbst zur Diskussion stellen.
Gehen wir von dem Wort „Wohnmaschine“ aus, das eine Zeitlang das Glaubensbekenntnis dieser Gruppe darstellte, und lassen wir es uns nicht verdrießen, das Wort ganz philologisch genau zu zerlegen: Eine Maschine hat eine fest umrissene Aufgabe dadurch zu bewältigen, daß sie sie in eine Summe mechanischer Bewegungsvorgänge zerlegt. Diese Summe kann ganz ungemein vielfältig sein: jeder von uns kennt solche Maschinen, die, in einem kontinuierlichen Arbeitsgang, etwa einen Baum entrinden, zerhacken, zerstäuben, kochen, walzen und ihn als Papier auf eine Spule wickeln. Eine Maschine ruft durch mechanische Eingriffe an einem Material eine ganz bestimmte Veränderung hervor. Es kann also eine Schuhputzmaschine, eine Kartoffelschälmaschine, eine Nähmaschine geben. Aber eine Wohnmaschine? Ist wohnen ein ebenso eindeutig bestimmter Begriff wie hobeln, sägen, fahren?
Keineswegs, sagt der Zweckmann, ebenso, wie wir; aber wohnen selbst ist machina, ist nur Mittel, genau wie etwa essen und schlafen. Essen, zum Beispiel dient dazu, den Körper fähig zu machen, seine Arbeit zu leisten. Dazu muß es bekömmlich sein, nahrhaft, und es muß, durch den Geschmack, Anreiz zur Aufnahme bieten. Ganz ebenso wohnen: wohnen muß gesund sein, ruhig, bequem, und es muß, genau wie das Essen, dem Geschmack zusagen, damit es dem Menschen ohne Unbehagen zugemutet werden kann (Alexander Klein). Sobald ich aber die Wohntätigkeit, fährt der Zweckmann fort, so in ihre einzelnen Funktionen zerlege, kann ich sie allerdings maschinell befriedigen: Ruhe kann man mechanisch herstellen. Die Industrie gibt uns da ein paar ganz ausgezeichnete Materialien in die Hand. Über Gesundheitsfragen hat man, gottlob, heute einige wissenschaftliche Klarheit, und seitdem man darüber Bescheid weiß, welche Wirkungen infrarote und ultraviolette Strahlen auf den Organismus ausüben, ist eine wissenschaftlich geleitete Baukunst allerdings imstande, diese Strahlen optimal zu dosieren. Und ist etwa die Aufgabe, die ein Stuhl zu erfüllen hat, nicht fest genug umrissen, daß man ihn als Sitzmaschine ansprechen könnte? Aufgabe des Stuhles ist es, dem bequemen Sitzen zu dienen. Erreicht wird dies ganz logisch dadurch, daß man die Form des Stuhles der Körperform des sitzenden Normalmenschen möglichst genau anpaßt.
Ja, aber, fragen wir, wenn der sitzende Normalmensch nun wünscht, seine Lage zu verändern?
Sehr richtig, erwidert der Zweckmann, und darum haben wir eben jene ingenieusen Kombinationsmöbel erfunden, die in einem Handgriff aus einem Stuhl einen Liegestuhl, ein Bett, eine Couch machen. - Gewiß, gewiß, aber es gehe noch weiter: ich fürchte, der Normalmensch (wenn anders nicht nur seine Rückenlinie das Normale an ihm ist) wird es nicht einmal eine Minute lang in der gleichen Stellung aushalten. Es ist vielleicht durchaus nicht weise von ihm, aber ich fürchte, der Mensch ist gar nicht so bequem, daß er die Bemühungen, die man sich um seine optimale Sitzlage gibt, ganz würdigen könnte: er hat eine fanatische Lust daran, auch in der sogenannten Ruhe immerfort kleine Bewegungen zu machen.
Wir kommen uns immer näher, sagt der Zweckmann und wird warm: selbstverständlich sind unsere Möbel, mit allen Verstellungsmöglichkeiten und aller Umwandelbarkeit, bis heute noch nichts als dürftige Behelfe. Aber stehen wir denn nicht eben erst am Anfang unserer Arbeit? Liegt nicht eben in dieser Tatsache der Sinn aller architektonischen Arbeit von heute? Das Ziel ist klar, es ist Ihres so gut wie unseres: der völlig gelenkige Stuhl, der sich jeder, auch noch so kleinen und unwillkürlichen Bewegung mechanisch anpaßt.
Der völlig gelenkige Stuhl, sage ich und kratze mich nachdenklich an der Nasenwurzel... und wenn ich nun mal den Wunsch habe, Widerstand zu spüren, wenn ich mich gegen das Feste einer Lehne stützen möchte? ...
Sie müssen uns nicht schon in unseren Zielsetzungen für beschränkt halten. Natürlich wird man diesen allgelenkigen Stuhl in jeder beliebigen Lage feststellen können.
Also gut: ich stelle ihn fest. Und dann stelle ich ihn aus Versehen falsch und stoße mich, und dann stelle ich ihn so, wie ich es wollte; aber ich finde es auf einmal nicht ganz bequem. Und nun fange ich an, mit diesem Gummistuhl herumzuräkeln, stelle hier fest, prüfe, finde mich nicht ganz a mon also, versuche es in einer anderen Stellung, bitte Sie um Ihren Stuhl, probiere weiter ... Ich glaube, ich würde Sie nach zehn unbehaglichen Minuten verlassen, mein Lieber.
Unser Körper ist bei all diesen Dingen: sitzen, stehen, ruhen, von einer eigenen Aktivität. Es gibt Menschen, die sich auf eine Holzstufe setzen, und in diesem Augenblick ist die Holzstufe ein Sessel; und grade diese Menschen werden am ersten aus dem völlig gelenkigen Stuhl wieder aufstehen. Sitzen wird nicht vom Stuhl produziert (dann wäre er in der Tat Sitzmaschine), sondern vom menschlichen Körper, und es gibt sogar, wie gesagt, einige Menschen, die die Gabe haben, ihr Sitzen noch den unmöglichsten Möbeln aufzuprägen; selbst „praktischen“. Aber hat man auch beobachtet, wie das ist, wenn ein solcher Sitzmensch sich auf ein Kombinationsmöbel setzt? Er stellt es irgendwie fest, egal wie, in ein festes Möbel kann man sich schon irgendwie einsitzen; in einen Stuhl, der alle fünf Minuten fragt, ob man auch bequem sitzt, nie. Ein solches Möbel schurigelt meine Unbefangenheit, nicht anders als ein preußischer Unteroffizier, denn ob man mir immerfort sagt: Geh grade! oder: sitz bequem, gefälligst, das ist im Grunde gar kein so großer Unterschied.
Die Bequemlichkeit ist also keine so mechanisch regelbare Sache, wie wir und unser Freund, der Gesundheitsarchitekt, zuerst glaubten. Ja, es scheint jetzt sogar, als ob wir das, was ihn stört, kaum beachten, und grade das für störend halten, was ihm wünschenswert scheint: unsere Ansprüche an den letzten Komfort der Bequemlichkeit sind weniger ausgeprägt als die seinen; aber in einer Sache verstehen wir keinen Spaß: wenn man unsere Unbefangenheit verletzt. Das wahrhaft rücksichtsvolle Möbel ist für uns nicht das Gelenkstuhl, sondern einer, der uns die eben nötige Bequemlichkeit bietet, und zwar so unauffällig, daß wir gar nicht an ihn denken, wenn wir darin sitzen.
Bequemlichkeit zum Sitzen, zum Essen, zum Ruhen: diese Bequemlichkeiten unseres nächsten Umganges sind so leicht zu befriedigen; weil nämlich wir es sind, die es uns bequem machen. Inmitten einer Welt von Komplizierungen, einer Welt, die uns dauernd zwingt, uns an unsere Werkzeuge anzupassen (jene mächtigen Werkzeuge, die eben auch etwas mehr zu bewegen haben, als zu unserem leichten Dienst erforderlich), empfinden wir eine Art Unwillen, wenn uns diese persönlichen Leistungen eine Maschine abnehmen will: Man ist eben doch nicht froh bei dem Gedanken an einen mechanischen Suppenlöffel, trotzdem ein solches Werkzeug bestimmt nicht schwierig zu konstruieren ist und uns viel Zeit sparen würde. Bei aller strikten Zweckmäßigkeit, mit der wir unser Arbeitszeug täglich verbessern, ist unser Verkehr mit den Dingen im Hause, den einzigen, die wir vielleicht noch „unser“ nennen können, archaisch einfach geblieben. Und diese Tatsache hat die Zweckarchitekten aufs tiefste irritiert: Sie scheint ihnen ein dauernder Widerspruch gegen jene Einheitlichkeit aller Verrichtungen, die sie in früheren Kulturen erkennen und für unsere wünschen (diese poetische Überlegung ist, in letzter Instanz, Beweggrund unseres Kampfes, und nicht, wie man zunächst glauben möchte, der einfach praktische Sinn des Ingenieurs). „Du“, sagen sie, „Mensch dieser Zeit, du färst im Auto ins Büro und diktierst in die Maschine. Du sagst: Schlamperei, wenn dein Radio dir einmal nicht pünktlich die Börsennachrichten aus Amsterdam bringt, und du murmelst: Mittelalter, wenn irgendwo Petroleumlicht ist anstatt elektrisches: und du erträgst es, deinen Kaffee aus den gleichen Gefäßen zu schlürfen wie beim Urgroßvater?“ Und es entsteht jenes „Haus des Sportsmannes“ auf der Bauausstellung, das seine Besitzer (wenn es welche fände) zwingen möchte, an Trapezen vorbei hechtlings aufs harsche Ruhelager zu turnen.
Der Zweckarchitekt hat ganz recht: Wir leben in der Tat in zwei Welten: in der der Werkzeuge und in der der Gegenstände. Die Werkzeuge spannen uns in ihren Beruf; die Gegenstände formen wir nach unserem Bedarf.
Aber vielleicht sollte man sich freuen, daß diese primitive Welt unseres nächsten Bedarfes noch nahezu unberührt fortbesteht. Vielleicht sollte man das Faßliche und Ruhige all dieser Dinge bewußt genießen und pflegen. Vielleicht liegt eben hier die Aufgabe des Architekten, ganz im Gegensatz zu der des Ingenieurs. (Der Ingenieur konstruiert Werkzeuge, die einem Zweck aufs beste dienen. Der Architekt formt Gegenstände. Gegenstände leisten nie einen Zweck so gut wie Werkzeuge. Aber das ist eben vielleicht auch gar nicht ihre Aufgabe.)
Wenn man sich nicht scheut, die Freude einmal zu analysieren, die man in einer guten menschlichen Umgebung empfindet, so wird man schnell merken, daß es nicht das Komplizierte ist, was befriedigt, nicht das Raffinierte, auch nicht das restlos Durchkonstruierte (im Gegenteil: von jedem Apparat strahlt Unruhe aus). Was man begrüßt, was einen warm werden läßt, ist vielmehr grade das Zwanglose im Umgang von Mensch und Ding, das Zutrauliche, Ruhige dieses Umganges; es ist die Sicherheit, mit der die Sachen an ihrem Platze stehen, die Klarheit, mit der sie ihren einfachen Zweck erfüllen und ausdrücken, die Würde und Heiterkeit, die ihnen eigen ist, weil sie am engsten zu uns gehören: die helle menschliche Gegenwart, die sie bestimmt.
Eine zweckmäßige Umgebung beunruhigt. Eine sinnvolle klärt und fördert.
Unbegreiflich: man hat das Gefühl für dieses Sinnvolle fast ganz verloren: Jahrzehntelang hat man darum streiten können, ob Architektur Zweckerfüllung sei oder Kunst; oder vielleicht ein Drittes, Darstellung des Menschen, für den sie geschaffen ist: eine Art expressiver Hintergrund für seine hervorstechendsten Eigenschaften (es ist gleichgültig, ob man als hervorstechendste Eigenschaft Unrast, Dynamik dekretiert, wie im Jahre 1922, oder Sport, Hygiene, wie im Jahre 1930). Natürlich: all das gehört mit hinein: Architektur ist auch Kunst. Auch die Zwecke müssen erfüllt sein. Und auch ein gutes Teil Darstellung der Menschenart, zu der sie gehört, ist in jeder guten Architektur. Aber Architektur ist eben das alles, und einiges andere noch und das alles nicht als Summe, sondern als ein Unteilbares (vor jedem Unteilbaren aber versagt die Maschine, deren Arbeiten nichts anderes ist als ein Teilen). Und indem man irgendeinen solchen Zweck der Architektur aus dem Unteilbaren herauszulösen versucht, um ihn allein auf das Titelblatt einer Bautheorie zu stellen (und es ist einzusehen, daß man auf diese Weise beliebig viele Bautheorien entwickeln kann), verfährt man mit der ganzen Sache nicht weniger unsanft als jener Funktionalist, der aus dem guten, ruhigen Ding, auf das man sich niederläßt, plötzlich ein fiebriges Gestänge macht, weil er, der Feind des Gegenständlichen, es allein auf einen unter seinen vielen Zwecken abstellt.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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