: Hitler-Ludendorff-Putsch in München
■ Kahr »Reichsverweser«/ Ludendorff trägt die schwarzweißrote Kokarde über den Rhein/ Knilling gestürzt und eingesperrt/ Hitler verspricht, Deutschland wieder zum Reich der Herrlichkeit zu machen
München, 8. November, 11 Uhr abends (TU) — Der heutige Abend hat in München den Staatsumsturz gebracht. In einer ungeheuer überfüllten und schon um 7 Uhr polizeilich gesperrten Versammlung im Saale des Bürgerbräukellers hielt der bisherige Generalstaatskommissar Dr. v. Kahr die angekündigte große Rede.
Ehe er sie aber noch zu Ende geführt hatte, wurde er plötzlich von dem im Saale anwesenden Führer der Nationalsozialisten, Hitler, unterbrochen. Ein Sturmtrupp drang in den Saal ein und gab eine Anzahl Schüsse gegen die Saaldecke ab. Es entstand eine ungeheure Unruhe. Hitler brach sich durch die Menge Bahn und erklärte, die Regierung Knilling sei hiermit gestürzt und die nationale Diktatur ausgerufen. Heute vor fünf Jahren sei die Revolution angegangen, mit dem heutigen Tage aber sei sie beendet. Das Kabinett Knilling sei abgesetzt. Die Minister Knilling und Schweyer, die in der Versammlung anwesend waren, wurden trotz ihres Protestes sofort verhaftet und vorläufig eingesperrt. Außerdem wurden verschiedene andere prominente Persönlichkeiten verhaftet.
Hitler teilte mit, daß die neue bayerische Regierung bereits gebildet sei. Landesverweser ist Dr. v. Kahr, Ministerpräsident Pöhner. Eine deutsche nationale Reichsregierung werde in München gegründet. [...] Sowohl Kahr wie Ludendorff und Pöhner erklärten sich in kurzen Ansprachen zur Übernahme ihrer Ämter bereit. Hierauf hielt noch Hitler ein Schlußwort, in dem er erklärte, der Tag, den er so sehnlichst seit fünf Jahren erwartet habe, sei heute gekommen. Er werde Deutschland wieder zu einem Reiche der Herrlichkeit machen. [...]
Die Nachrichten aus München sind zur Stunde — knapp vor Mitternacht — noch so verworren, daß sich ein klares Bild aus ihnen noch nicht gewinnen läßt. Sicher ist nur, daß die nationale Revolution — echt münchnerisch — vom Bürgerbräu ihren Ausgang genommen hat, und daß eine Schar der unglaublichsten Hanswürste eine neue »Reichsregierung« zu bilden versucht. Eine Posse, wie sie, so hoffen wir, nirgends sonst in Deutschland als in der sogenannten »Ordnungszelle« und im wirklichen Narrenhaus Bayern möglich ist. [...]
Natürlich ist die Frage von Wichtigkeit, wie weit die Verbindungen Hitlers nach Norden reichen und ob die von ihm begründete »Reichsregierung« außerhalb Münchens von einem Menschen ernst genommen werden wird.
Einstweilen können wir uns das nicht vorstellen. Hitler gilt bis in die Kreise hinein, die ihm nahestehen, als ein eitler Schwätzer, und selbst unsere »Völkischen« dürften einige Bedenken tragen, sich ohne weiteres seiner Führung anzuvertrauen. Viele Deutschnationale sind zu preußisch, als daß sie sich ohne weiteres vom Münchener Bürgerbräuhaus regieren lassen wollten. Die 'Kreuzzeitung‘ unterzog unlängst die Persönlichkeit Hitler einer vernichtenden Kritik. [...]
Meldungen über Putschversuche liegen außer aus München zur Mitternachtsstunde aus keinem Ort Deutschlands vor. Es sind bisher auch nirgends ernste Vorbereitungen beobachtet worden. Namentlich war in Berlin nicht das geringste Anzeichen eines bevorstehenden Aufstandes zu bemerken.
Bedenklich muß es stimmen, daß die Reichswehr, mit der Auflösung proletarischer Hundertschaften beschäftigt, gestern das vorgeschriebene Ziel an der Thüringer Grenze noch nicht erreicht hatte. Denn mit dem Losbrechen Ehrhardts muß unter allen Umständen gerechnet werden.
Selbstverständlich fordern die nächsten Tage höchste Bereitschaft. Es muß dafür gesorgt werden, daß aus der Münchener Hanswurstkomödie keine blutige Tragödie für ganz Deutschland wird. Fünf Jahre lang hat die Republik geduldet, daß von den Verbrechern des alten Systems und ihrer Gefolgschaft blöder Spießbürger und halbwüchsiger Knaben mit ihr Schindluder getrieben wurde.
Möge ihr der Münchener 8. November endlich das Erwachen bringen!
Morgenausgabe des Vorwärts, Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 9. November 1923
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