: „Wir müssen die erste moderne Massenpartei Kolumbiens aufbauen“
■ Ein Gespräch mit dem früheren Comandante Antonio Navarro Wolf, jetzt aussichtsreichster Kandidat für die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung INTERVIEW
taz: Vor etwas mehr als einem halben Jahr übergab die M-19 die Waffen. Nun könnte Ihre Bewegung bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung die absolute Mehrheit erringen. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Antonio Navarro Wolf: Die politische Entwicklung in Kolumbien verläuft rasant. Drei Prozesse sind 1990 zusammengekommen. Erstens der Friedensprozeß: die Leute wollen den Frieden, und ich denke, die M-19 hat richtig gehandelt, als sie schnell und effizient in der Friedensfrage voranschritt. Ein zweiter Prozeß: Die öffentliche Meinung ist die althergebrachte Politik leid, die sich nicht erneuert und nur überkommene Strukturen konserviert. Und drittens gibt es Gruppierungen innerhalb der Liberalen und der Konservativen Partei, die das Land, die Wirtschaft, die Politik und die Verwaltung modernisieren wollen. Außer uns gibt es nicht viele, die sich für diese drei Ziele, Frieden, Demokratie und Modernisierung, gleichermaßen profiliert haben. Die M-19 steht für einen Friedensschluß, der geklappt hat; sie ist nicht von der alten Politik infiziert und die Tätigkeit im Gesundheitsministerium hat gezeigt, daß wir sehr wohl die öffentliche Verwaltung modernisieren möchten.
Wird die M-19 aber, ohne eine richtige Parteistruktur, die hochgesteckten Erwartungen der Wähler erfüllen können?
Das ist eine große Herausforderung. Wenn die Wahlen vorbei sind, wird der Aufbau einer modernen Partei, die eine Alternative zu den historischen Parteien darstellt, die wichtigste Aufgabe sein. Sollten wir genug Stimmen bekommen, um in der verfassunggebenden Versammlung einen Block von Erneuerern anzuführen, wäre eines der Dinge, die reformiert werden müssen, die Struktur der politischen Parteien in Kolumbien. Danach müssen wir dazu fähig sein, die erste moderne Massenpartei Kolubiens aufzubauen.
Welche anderen Vorschläge wird die M-19 in die verfassunggebende Versammlung einbringen?
Mehr noch als die Modernisierung der Parteien ist der zentrale Punkt die Modernisierung der Politik. Das bedeutet die Umstrukturierung und Modernisierung des Kongresses und des politischen Regimes. Wir denken, es muß ein semi-parlamentarisches Regime eingeführt werden. Außerdem muß die Beteiligung der Bürger in der Politik erweitert werden. In Kolumbien besteht eine sehr eingeschränkte Demokratie, und bis vor kurzem war die Stimmabgabe an die Gefälligkeiten des Staates gegenüber den Wählern gebunden. Also müssen die Mechanismen der demokratischen Beteiligung etwa um nationale und regionale Volksabstimmungen bereichert werden. Auch müssen Modelle entwickelt werden, die den Bürgern eine Teilhabe bei der Kontrolle der öffentlichen Verwaltung ermöglichen. Als Resultat des neuen politischen Systems sollten die verschiedenen Interessensgruppen der Gesellschaft, durch moderne politischen Parteien repräsentiert, auch die wirtschaftliche und soziale Demokratie bereichern.
Ihre Vorschläge unterscheiden sich kaum von denen des Präsidenten Gaviria.
Präsident Gaviria ist Chef der Liberalen Partei. Um an die Macht zu kommen, muß die Liberale Partei mit den rückständigen regionalen Wahlbaronen paktieren. Kämen sie an die Macht, würden die Liberalen versagen, wenn es darum geht, den Staat modern und gut organisiert zu führen, weil sie an die Wahlbarone gebunden sind. Dann sitzen sie in der Falle ...
Die M-19 ist nicht an der Macht.
Genau. Wir sind nicht gebunden. Und wenn wir eine bedeutende Stimmzahl bei den Wahlen erreichen, können wir sehr wohl die Wahlapparate auseinandernehmen. Sollten wir die Mehrheit in der verfassunggebenden Versammlung erringen, werden wir die Politik dieses Landes auf den Kopf stellen. Es ist möglich, daß viele Leute von Präsident Gaviria genau wie wir denken, aber sie besitzen nicht die Mittel, um etwas zu ändern. Wir könnten sie haben. Da ist der Unterschied.
Was bedeutet die von ihnen vorgeschlagene „Demokratisierung des Eigentums“?
Ein bedeutender Teil der kolumbianischen Bevölkerung ist systematisch vom Entwicklungsmodell ausgeschlossen worden. Zuerst brauchen wir eine effizientere Wirtschaft. Die Privatwirtschaft, und da stimmen wir wieder mit den Modernisierern der Liberalen Partei überein, muß in die internationale Wirtschaft eingegliedert werden. Die geschlossenen Märkte führen ohne Zweifel zu Deformationen, die das Wirtschaftswachstum beschränken. Andererseits sind die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital in der Mehrzahl der Unternehmen denkbar schlecht. Daher meine ich, daß Modelle für die gemeinsame Leitung der Unternehmen zumindest realisierbar werden sollten. Dabei sollen die Angestellten und Arbeiter nicht nur an der Betriebsführung beteiligt werden, sondern auch am Firmeneigentum. So entstände ein Block von Unternehmern und Arbeitern, der sich den Herausforderungen einer effizienteren und in den Weltmarkt integrierten kolumbianischen Wirtschaft stellt.
Der vielleicht kritischste Punkt in der verfassunggebenden Versammlung wird der Umgang mit den Streitkräfen sein. Was denkt die M-19?
Mit den Streitkräften muß ein neues Konzept von nationaler Sicherheit vereinbart werden. Unsere Streitkräfte sind dazu angehalten worden, die Sicherheit der USA und nicht die eigene zu verteidigen. Es ist absurd, weiterhin zu glauben, die Sicherheit Kolumbiens sei durch den Kommunismus bedroht. Das ist noch nie so gewesen. Die Gründe für den Aufstand und die Gewalt sind hier in Kolumbien zu suchen, nicht in Moskau.
Die Militärs sind aber vom Gegenteil überzeugt.
Die Mauer in Berlin ist gefallen. Das ideologische Vakuum versuchen die Militärs nun mit dem neuen Gespenst der Internationale des Drogenhandels zu füllen. Aber der Drogenhandel ist kein historisches Projekt und eignet sich nicht wie der Kommunismus dazu, eine ganze Weltauffassung zu strukturieren. Zusammen mit den Militärs müssen neue Konzepte für Kolumbien und seine Sicherheit ausgearbeitet werden. Was nicht geschehen darf, ist, daß die verfassunggebende Versammlung den Streitkräften ihre Funktions- und Denkweise einfach vorschreibt. Dann gehorchen sie nicht.
Es wird gesagt, ihr Vorgänger Carlos Pizarro sei mit Beteiligung der militärischen Geheimdienste ermordet worden.
Wir haben Indizien dafür, wer die Urheber der Ermordung von Carlos waren. Daß wir sie haben, heißt aber nicht, daß wir sie nennen können. Es gibt in diesem Land Gruppen von Menschen, die wegen einer Mischung von mehreren Dingen töten.
Eine Mischung mehrerer Sektoren, inklusive der Militärs?
Eine Mischung aus mehreren Dingen.
Sind gegen Sie Attentatspläne entdeckt worden?
Bisher noch kein konkreter. Allerdings wissen wir von zwei Gruppen, die daran interessiert sind, mich zu töten.
Historisch hat das kolumbianische Zwei-Parteien- System noch nie Dritte an die Macht kommen lassen. Fürchten Sie keinen Wahlbetrug?
Doch. Wir haben sogar in einigen Regionen erste Pläne für einen Betrug an den Wahlurnen entdeckt. Wir fordern die Präsenz internationaler Beobachter, die einen sauberen Urnengang garantieren könnten.
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