: „Die Vollmachten des Präsidialkabinetts sollten von den Republiken definiert werden“
■ Unsere Moskau-Korrespondentin fing kurz nach der Rede Gorbatschows am Samstag einige Reaktionen auf die weitreichenden Umgestaltungspläne des Präsidenten ein FLURGESPRÄCHE IM OBERSTEN SOWJET
Sergej Stankewitsch, Stellvertretender Oberbürgermeister von Moskau, Ex-KPdSU-Mitglied und heute parteilos, hat wesentlich am Krisenplan der oppositionellen Überregionalen Deputiertengruppe mitgearbeitet. Dieses Projekt sieht eine ähnliche Übergabe der exekutiven Gewalt an den Präsidenten vor, wie sie vorgestern von Michail Gorbatschow vorgeschlagen wurde. Stankewitsch ist einer der wenigen Fachpolitologen im Obersten Sowjet der UdSSR.
Nikolaj Kuzenko ist Vertreter der ukrainischen Volksfront „Ruch“ und Mitglied der Überregionalen Deputiertengruppe im Obersten Sowjet der UdSSR.
Viktor Jakowlewitsch Asarow wurde vom Verband des Krieges, der Arbeit und der Streitkräfte in den Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR entsandt.
taz: Herr Stankewitsch, halten Sie die von Gorbatschow vorgeschlagene Umgestaltung der Regierungsorgane für eine Lösung der Probleme des Landes?
Sergej Stankewitsch: Zumindest ist es ein erster Schritt zu einer wirklichen Lösung. Wenn wir sofort anfangen, könnten wir unsere höchste exekutive Macht bis zum Ende dieses Jahres so umgestaltet haben, daß sie den Bedürfnissen unserer Völker auch entspricht.
Einige der Republikvertreter hier haben schon angekündigt, daß ihre Völker sich auch einer so reformierten Macht nicht unterordnen werden.
Das betrifft die Republiken, die der Union auf jeden Fall künftig fernbleiben wollen. Aber ich glaube doch, daß die Republiken, die es immer noch vorziehen, unter ganz bestimmten Bedingungen eine Union zu bilden, die Vorschläge des Präsidenten ernst nehmen werden.
Sehen Sie eine Verwendung für Premier Ryschkow?
Er hat seine Rolle als Ministerpräsident erfüllt. Es wäre für ihn das beste, wenn er seine politischen Aktivitäten dadurch zum Abschluß brächte, indem er dem Präsidenten bei der Umgestaltung der Exekutive hilft — und danach zurücktritt.
Wie stellen Sie sich das neue Präsidialkabinett vor?
Meinem Vorschlag zufolge sollte das Ausmaß der Vollmachten dieses Kabinetts von den Republiken definiert werden. Und die Kabinettsmitglieder müßten von den Republiken legitimiert werden.
Das neue Amt für Gorbatschow ist also diesmal wirklich mehr als ein Etikettenwechsel?
Tatsächlich war die Bereitschaft, die höchste exekutive Macht im Lande auf sich zu nehmen, der einzige konkrete Vorschlag, den Gorbatschow hier gemacht hat. Das Interrepublikanische Komitee wird in der Form, in der er es vorgeschlagen hat, wohl kaum durchkommen, und ich halte dies auch nicht für zweckmäßig. Wenn es uns Parlamentariern gelingt, die konkreten Vollzugsmechanismen mit Sachverstand auszuarbeiten, dann braucht es diesmal nicht beim schlichten Etikettentausch zu bleiben.
Weit entfernt von einer Volksvertretung
Herr Kuzenko, was bringen die Vorschläge Gorbatschows für die Ukraine?
Nikolaj Kuzenko: Ich traue Gorbatschow nicht. Er spricht ja bisweilen bereits von einer Union sozialistischer Staaten anstatt von einer Union sozialistischer Republiken. In seinem jetzigen Projekt jedoch ist davon wieder einmal nicht die Rede. Solange wir nicht den Vereinten Nationen angehören können und den entsprechenden internationalen Schutz genießen, werden unsere Beziehungen zueinander innerhalb der Union immer die Beziehungen von verschiedenen Baracken sein. Ich muß aber hinzufügen, daß sich vor einer weitergehenden Lösung auch der gute alte Westen fürchtet. Die internationale Kapitalistenbruderschaft hat ja bekanntlich beschlossen, den Prozeß der Perestroika in unserem bankrotten Staatswesen zu unterstützen. Inzwischen haben aber schon einige politische Führer im Westen kalte Füße bekommen, weil ihnen die Unterstützung für uns allzu konkret ausgefallen ist. Wenn jetzt eine ganze Reihe von Staaten erklären, nichts mehr mit dieser Union zu tun haben zu wollen, werden sie wohl auch nicht deren Auslandsschulden bezahlen wollen.
Wie könnte man also der Misere begegnen?
Anfangen muß man da bei der Kommunistischen Partei. Zu behaupten, daß sie heute nicht mehr herrsche, ist leeres Geschwätz. 90 Prozent der Nomenklatura sind durch die Bank Parteimitglieder, ebenso alle Minister, Direktoren von Großunternehmen und Mitarbeiter der Sicherheitsorgane. Das KGB ist die Kampftruppe der Kommunistischen Partei. Presse und Fernsehen sind in Parteihand. Und da soll keine Verschwörungsgefahr bestehen? Man kann also nichts ändern, wenn man nicht zuerst dies ändert. Und die Frage, ob dieser Oberste Sowjet ein für das Land notwendiges Parlament ist, kann man ruhigen Gewissens mit „nein“ beantworten. Es ist aus demselben Kongreß der Volksdeputierten hervorgegangen, der sich mit über fünfzig Prozent der Stimmen gegen die Beteiligung Boris Jelzins an der Regierung ausgesprochen hat. Zur Befreiung von der Vorherrschaft der Partei und zur Schaffung einer wirklichen Volksvertretung aber ist noch ein weiter Weg.
Wie, glauben Sie, ist der Übergang zu einer neuen Union mit einem Mehrparteiensystem möglich?
Dieses Stadium müssen wir wohl überspringen. Denn das hieße, noch einmal Wahlen anzusetzen. Und das wird das Volk heute nicht mehr hinnehmen. Zudem müßte die einfache Voraussetzung geschaffen werden, daß jeder Unionsstaat seine eigene Kommunistische Partei hätte anstatt der allesübergreifenden. Daran aber ist ebensowenig zu denken wie an ein Mehrparteiensystem. Warum also sollten wir uns heute über die Dächer des Kreml hinweg vereinigen, unter der Anleitung eines nicht vom Volk gewählten Zentrums, wenn wir uns nicht einmal in unserem eigenen Eckchen richtig umgesehen haben, was eigentlich los ist? Ich bin also dafür, daß sich erst einmal alle ehemaligen Sowjetrepubliken als Staaten konstituieren und sich dann überlegen, was sie eigentlich für ein Zentrum haben wollen: ein koordinierendes, kontrollierendes oder erstickendes. Was wir brauchen, ist ein verbindliches Gesetz, einen Staatsvertrag, in dessen Rahmen wir uns vereinigen können. Dann könnten wir unseren „Moskauer Pakt“ zur militärischen Verteidigung schließen und dessen Oberkommandierenden einem Präsidentenrat unterstellen — der aber eben aus lauter Präsidenten bestehen sollte, nämlich denen der neuen Staaten. Und wenn das alles funktionierte, dann könnten wir langsam anfangen, die Vorhängeschlösser weiter abzumontieren.
„Austritte bringen uns nur Unheil“
Herr Asarow, wie stellen Sie sich die neue „Union“ vor?
Viktor Asarow: Ich sage nur eines: der Unionsvertrag muß die Interessen aller Unionsrepubliken unseres Staates im Sinne der heutigen Konstitution berücksichtigen. Ein übereilter Bund, der nicht an den echten Volksinteressen anküpft, kann uns nichts nützen. Daß die einzelnen Mitglieder souverän sein können, das halte ich für möglich. Daß aber eine Republik aus der Union einfach austritt, halte ich für unzulässig. Ein solcher Schritt kann dieser Republik nur Unheil bringen.
Sie denken an das Beispiel Litauens?
Die litauische Regierung hat die Angehörigen der sowjetischen Armee in dieser Republik in eine unerträgliche Situation gebracht, und nicht nur sie, sondern auch alle Russen, Ukrainer, Polen, ja auch viele Litauer selbst. Die heutige litauische Regierung verteidigt lediglich ihre partikularen Cliqueninteressen, ihre Güter und Lehen.
Was wollen Sie dagegen unternehmen?
Wir russischen Menschen sind unserer Natur nach echte Internationalisten und treten für eine wahre Freundschaft der Völker ein. Für uns gibt es keine guten und schlechten Völker. Aber wir wollen, daß es uns allen zusammen gut geht und nicht jedem einzelnen für sich und auf Kosten der anderen. Und dies können wir auch erreichen.
Halten Sie ein Mehrparteiensystem für möglich?
Das Mehrparteiensystem ist bei uns schon Realität. Jetzt kommt es darauf an, es entsprechend der allgemeinen Interessen zu strukturieren, um die anstehenden Fragen geordnet und richtig zu lösen.
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